Ge(h)dacht – Inklusion: Fluch oder Segen?

Zwei Personen, die als Silhouetten dargestellt sind, besteigen einen Berg und helfen sich dabei gegenseitig.
Bild von: Emma Zecka

Hallo zusammen,

Inklusion ist in aller Munde. Immer wieder gibt es Berichte in den Medien, die von geglückter Inklusion in der Schule oder dem Beruf erzählen. Während meiner Schulzeit habe ich aber von vielen negativen Beispielen mitbekommen.

Deswegen möchte ich mich in diesem Artikel mit dem Thema Inklusion beschäftigen und lege den Schwerpunkt dabei auf dem Thema Inklusion in der Schule. Das hängt vor allem damit zusammen, dass ich im Rahmen meiner Schulzeit Leute kennengelernt habe, die eine Zeit lang in einer Regelschule, gemeinsam mit Kindern oder Jugendlichen ohne Behinderung beschult wurden.

Sehbehinderung / Blindheit – Was ist das?

Nach dem Gesetz wird Sehbehinderung bzw. Blindheit folgendermaßen definiert:

  • (leichte) Sehbehinderung: Als sehbehindert gilt man, wenn man auf dem besser sehenden Auge selbst mit Hilfsmitteln (Kontaktlinsen / Brille) nicht mehr als 30% sieht.
  • hochgradige Sehbehinderung: Als hochgradig sehbehindert gilt man, wenn man auf dem besser sehenden Auge mit Hilfsmitteln (Kontaktlinsen / Brille) nicht mehr als 5% sieht.
  • gesetzlich blind: Man gilt als gesetzlich blind, wenn man auf dem besser sehenden Auge mit Hilfsmitteln (Kontaktlinsen / Brille) nicht mehr als 2% sieht.

(Quelle: Universitätsklinik Würzburg)

Begriffe im Alltag

Um das ganze Prozedere jetzt noch etwas komplizierter zu machen, möchte ich darauf hinweisen, dass die ein oder andere Definition im Alltag anders gehandhabt wird.

Dort bezeichnen sich Menschen, die laut dem Gesetz eine leichte Sehbehinderung haben, auch schon als hochgradig sehbehindert, da diese Bereiche oft fließend ineinander übergehen.

Zudem ist es wichtig zu beachten, dass man zwar als gesetzlich blind gelten kann, das aber nicht bedeutet, dass man gar nichts sieht. Mehr zu diesem Thema findet ihr in diesem Artikel.

Inklusion: Die Grundlagen

Erstmal muss geklärt werden, was Inklusion eigentlich ist und wie das im Fall von blinden und sehbehinderten Menschen in der Schule funktioniert.

Was ist Inklusion?

Der Grundgedanke der Inklusion ist eine wirklich tolle Sache. Ziel ist es, Gruppen, die aus der Norm herausfallen in die Gesellschaft miteinzubeziehen. Im Gegensatz zur Integration geht es aber nicht darum, dass sich Randgruppen in bereits bestehende Systeme integrieren sollen. Ziel der Inklusion ist eine Veränderung in der Gesellschaft.

Um das auf das Beispiel der Schule zu übertragen: Menschen mit Behinderung sollen also nicht nur in Regelschulklassen gesteckt werden nur um sie dann sich selbst zu überlassen.

Es werden jede Menge unterstützende Maßnahmen geboten, damit Kinder und Jugendliche mit Behinderung ebenfalls in der Schule zurechtkommen.

Ein Fallbeispiel:

Im Fall von blinden oder sehbehinderten Menschen in der Schule wäre das: Je nach Bedarf folgende Möglichkeiten:

  • eine Schulassistenz im Unterricht, die Dinge diktiert, die an die Tafel geschrieben werden oder bei Fächern wie Sport, Mathe, oder Kunst unterstützt.
  • Kontakt zu sonderpädagogischen Fachkräften: Sie beraten Lehrende, schauen in der Regelschule vorbei und vermitteln bei Konflikten.
  • Geeignete Hilfsmittel, die dafür sorgen, dass blinde und sehbehinderte Menschen in der Schule mitkommen: Das sind z.B. größer kopierte Unterrichtsmaterialien für Sehbehinderte, barrierefrei aufbereitete digitale Unterlagen für blinde Kinder und Jugendliche.

Klingt doch an sich super, oder? Das Schwierige bei solchen Modellen ist, dass es in der Praxis oft anders aussieht. In den nächsten Abschnitten zeige ich euch, welche Aspekte aus meiner Sicht erfüllt sein müssen, damit Inklusion funktioniert:

Aspekte der Inklusion

Es gibt folgende Aspekte, die ich in diesem Abschnitt im Einzelnen erläutern werde.

  • Früher Beginn mit der Inklusion
  • Assistenzkräfte in der Schule
  • stabiles soziales Umfeld
  • Bereitstellung barrierefreier Materialien

Was ich mir unter den einzelnen Punkten im Konkreten vorstelle, erzähle ich euch jetzt:

Früher Beginn mit der Inklusion

Wer Kinder kennt, erahnt vielleicht, was ich mit dieser Überschrift meine. Kinder sind direkt. Sie fragen das, was sie interessiert und lassen sich nicht durch äußere Gegebenheiten verunsichern. Natürlich können Kinder auch grausam sein, keine Frage. Ich denke aber, wenn Kinder mit und ohne Behinderung miteinander aufwachsen spielt die Behinderung irgendwann keine Rolle mehr, weil sie ein Teil des Alltags wird.

Meist sind es die Erwachsenen, die Probleme damit haben, Kindern mit Behinderungen offen zu begegnen. Das kann viele verschiedene Gründe haben, die ich hier nicht näher beleuchten werde, weil das den Rahmen des Artikels sprengen würde.

Assistenz in der Schule

Hier sind meine Erwartungen vermutlich viel zu hoch gegriffen. Assistenzkräfte sind oft jährlich wechselnde Personen, die ein FSJ machen, welche Kinder und Jugendliche mit Behinderung in der Schule begleiten.

Je nach Behinderung können es aber auch ausgebildete Fachkräfte sein.

Allerdings ist gerade die Assistenzkraft ein wichtiges Puzzlestück um Kinder und Jugendliche mit Behinderung in ihrer Selbstständigkeit zu fördern und auch dafür zu sorgen, dass Kinder und Jugendliche nicht sozial isoliert wird.

Jedoch ist der Schulalltag oft stressig. Raumwechsel stehen an, es muss schnell gehen. Es bleibt also nicht immer die Zeit, Dinge zu trainieren. Zudem ist auch die Frage, ob jährlich wechselnde Personen Zeit und Lust haben sich darauf einzulassen.

Hinzu kommt auch, dass ich mir wünsche, dass gerade Nicht-Fachkräfte eine pädagogische Begleitung bekommen und es Möglichkeiten gibt, Fragen zu stellen um Verhaltensweisen, die aufgrund mancher Behinderungen entstehen können, besser nachvollziehen und deswegen darauf reagieren zu können.

Beispiel

Eine vollblinde Freundin von mir, wurde mehrere Jahre inklusiv beschult. Sie hatte wöchentliche Kontakte mit dem für sie zuständigen Sonderpädagogen, der ihr u.a. den Umgang mit dem PC und den damit verbundenen Hilfsmitteln, wie beispielsweise einer Sprachausgabe beibrachte. Außerdem brachte er ihr Punktschrift (Blindenschrift) bei.

In der Schule wurde sie von einer Assistenzkraft begleitet, die für sie den Laptop aufbaute, anmachte, oder ihn trug, wenn ein Wechsel in einen anderen Raum notwendig war.

Ab der 9. Klasse wechselte die Freundin auf ein Gymnasium für Blinde und Sehbehinderte und musste nun erst einmal lernen, wie man einen Laptop aufklappte, oder ihn anschaltete, um damit arbeiten zu können.

Stabiles soziales Umfeld

Wir alle kennen diesen Punkt aus unserer eigenen Schulzeit. Wir suchen uns Menschen, die uns interessieren. Es werden Grüppchen gebildet, die sich aber genauso schnell wieder auflösen können. Oft wird der erste Kontakt über Mimik oder Gestik hergestellt. Man winkt sich zu, blickt sich an und schwupps sind Gesprächspartner gefunden.

Bei sehbehinderten oder blinden Menschen geht es schon los, dass sie weder Blickkontakt aufnehmen, noch Gestiken erkennen können. Also müssen beide Personen gezielt aufeinander zu gehen und ein Gespräch beginnen, was oft gar nicht so einfach ist, wie gedacht. Die Aspekte, die bei Menschen, die normal sehen, oft nonverbal ablaufen, bleiben oft unausgesprochen im Raum stehen.

Gerade die Pubertät macht solche Sachen auch oft nochmal eine Nummer komplizierter. Hier gibt es nicht nur Unsicherheiten in der Kommunikation, sondern auch erste Vorstellungen, wie Freundschaften zu sein haben, oder wer zu einer Gruppe dazugehören darf.

Nicht zu vergessen werden Hobbys entdeckt, bei denen es möglicherweise schwierig sein kann, Blinde und Sehbehinderte miteinzubeziehen.

Beispiel 1:

Die oben beschriebene Freundin wurde in ihrer Stufe eher misstrauisch beäugt. Eine Zeit lang gehörte sie zu einem Grüppchen, welches sich aber sehr schnell auflöste, weil es “uncool”, war mit “der Blinden” befreundet zu sein.

Beispiel 2:

Eine Bekannte von mir, ebenfalls blind und sehr kommunikativ besuchte ebenfalls eine Regelschule. Hier bekam sie den Klatsch und Tratsch ihrer Stufe zwar immer mit, gehörte aber nie zu einer Gruppe. Freunde fand sie erst durch ein Hobby, das sie außerhalb der Schule auslebte.

Bereitstellung barrierefreier Materialien

Im Gegensatz zu Schüler*innen ohne Behinderung, können sehbehinderte und blinde Schüler*innen mit normalen Kopien von Texten oft nicht viel anfangen. Blinde Schüler*innen können sie schlicht und ergreifend nicht lesen und brauchen diese entweder in Punktschrift, oder – in der heute gängigen Form – digital auf dem PC, um sie sich vorlesen zu lassen.

Sehbehinderte Kinder und Jugendliche hingegen sind auf Großkopien der Texte angewiesen. Allerdings wissen wir auch, wie viel Lehrende in einer Regelschule zu tun haben. Da braucht es nicht nur Verständnis, sondern oft auch zusätzliche Motivation, um den Mehraufwand zu bewältigen.

Beispiel:

Eine Freundin, deren Sehbehinderung durch Kontaktlinsen ausgeglichen werden kann, nach dem Gesetz also nicht als sehbehindert gilt, war während ihrer Schulzeit dennoch auf Großkopien angewiesen. Hier gab es für sie zwei Probleme:

Problem 1: Sie musste den Lehrenden immer wieder daran erinnern, dass sie Großkopien benötigte. Oft kam es vor, dass sie, nachdem die Blätter ausgeteilt wurden, erstmal damit beauftragt wurde, ins Sekretariat zu gehen, um sich die Materialien selbst zu kopieren.

Problem 2: Sie musste immer wieder daran erinnern, dass sie eben in einigen Punkten Unterstützung benötigt, obwohl sie sich in der Schule sicher bewegt und man ihr auf den ersten Blick eben nicht ansieht, dass sie eine Behinderung hat.

Positive Beispiele

Wer nach dem obigen Text jetzt betroffen zu Boden blickt und glaubt, dass Inklusion ja nur zum Scheitern verurteilt sein kann, sollte sich den folgenden Abschnitt unbedingt anschauen, um noch eine zweite Perspektive auf das Thema zu bekommen:

Als mir klar wurde, dass ich einen Bericht über dieses Thema schreiben möchte, dachte ich mir, dass er ziemlich einseitig wird, wenn ich nur die ganzen Negativbeispiele aufzähle, die mir zu Ohren gekommen sind. Deswegen habe ich in einer Facebook Gruppe eine Diskussion über das Thema Inklusion in der Schule angezettelt und um Erfahrungsberichte gebeten. Die aufgeführten Beispiele orientieren sich wieder an der obigen Struktur:

Früher Beginn mit der Inklusion

Hier schilderte eine Person, dass sie das Glück hatte gleich von Beginn an in einer Regelschule gelandet zu sein. Am Anfang habe es zwar viele Fragen zu ihrer Blindheit gegeben, aber irgendwann war das Thema eben ausdiskutiert und es war klar, welche Sachen sie machen konnte und wo sie Unterstützung bräuchte.

Assistenz in der Schule

Ebenfalls wurde sie im Unterricht von einer Assistenzkraft begleitet. Diese zog sich in den Pausen aber zurück und musste sie zum Schluss in den meisten Unterrichtsfächern auch nicht mehr begleiten, da dort eine Sitznachbarin während eines Tafelanschriebes leise den vorne stehenden Text mit murmelten, sodass sie ihn mitschreiben konnte.

Stabiles soziales Umfeld

Die oben beschriebene Person gehörte immer zu irgendeiner Gruppe dazu. Während der Pubertät änderten sich die Cliquen, jedoch war es nie so, dass sie zu den Außenseiterinnen ihrer Stufe gehörte.

Bereitstellung barrierefreier Materialien

Auch hier hatte sie großes Glück, war sich aber darüber klar, dass dies maßgeblich an der Motivation ihrer Lehrenden lag. Ihr war bewusst, dass es viele blinde und sehbehinderte Menschen gab, die sich meist selbst um ihre Materialien kümmern mussten.

Unter dem Post in der Gruppe meldeten sich auch viele Betroffene, die erzählten, dass es ihnen in ihrer Schulzeit nicht gut ging. Allerdings berichten diese, dass sie nun gestärkt aus dieser Zeit hervorgehen und sich nun um ihre Sachen kümmern können.

Mein Fazit

Ihr seht: Es müssen bei diesem Thema beide Seiten beachtet werden. Es bringt nichts, wenn blinde oder sehbehinderte Schüler*innen alle Materialien zur Verfügung gestellt bekommt, motivierte Lehrende hat, aber trotzdem die Außenseiter*innen des Jahrganges ist.

Umgekehrt kann das soziale Netz zwar gut sein, die Unterstützung seitens der Lehrenden aber gering. Wenn Schüler*innen mit Behinderung also eine Förderschule besuchen, heißt das nicht immer, dass sie weniger leisten können, als Regelschüler*innen.

Ich denke aber auch, dass Inklusion unter den gegebenen Umständen nicht funktionieren kann, weil es zum einen an Personal, der technischen Ausstattung und hier und da dem sozialen Miteinander fehlt.

Zusammenfassend stelle ich für mich fest: Es ist wichtig, dass Kinder und Jugendliche mit Behinderung die Wahl haben, welche Schulform sie besuchen wollen. Wenn sie eine Regelschule besuchen wollen, sollen Möglichkeiten geschaffen werden, damit der Schulbesuch gelingen kann.

Wenn sie dann aber merken, dass es aus welchen Gründen auch immer, nicht funktioniert, sollte eine Wechsel auf eine Förderschule möglich sein. Das ist aber nicht gegeben, wenn alle Förderschulen aufgelöst werden.

Interessant wäre es auch, wenn sich die Förderschulen für Schüler*innen ohne Behinderung öffnen. Möglicherweise gibt es Kinder und Jugendliche, die sich vielleicht darüber freuen in einer kleineren Klasse eine bessere Förderung zu bekommen.

Und Du?

Wie stehst Du zu diesem Thema?
Geht es Dir schon auf die Nerven?
Oder hast Du selbst Erfahrungen mit Inklusion gemacht?

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Wie lese ich eigentlich?

Umgang mit der eigenen Behinderung.

Zu meiner Person:

Ich bin von Geburt an auf dem linken Auge blind und auf dem rechten Auge hochgradig sehbehindert. Seit 2017 beträgt mein Sehrest 2%, was bedeutet, dass ich nach dem Gesetz als blind gelte. In der Praxis heißt dass: Ich…

  • Habe Mühe mich in unbekannten oder schlecht beleuchteten Räumen zu orientieren
  • Erkenne mir bekannte Personen nicht im Vorbeigehen
  • Laufe mit einem Blindenlangstock (von mir als Elderstab betitelt) pendelnd durch die Weltgeschichte
  • Kann keinen Blickkontakt aufnehmen und mit der Mimik meines Gegenübers nichts anfangen
  • Kann Personen, die in unmittelbarer Nähe (linker, rechter Sitznachbar je nach Entfernung auch mein Gegenüber) erkennen, alles was darüber hinaus geht aber nicht

 

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