Blind heißt nicht gleich nichts sehen

Zwei Personen, die als Silhouetten dargestellt sind, besteigen einen Berg und helfen sich dabei gegenseitig.
Bild von: Emma Zecka

Hallo zusamme,

schon lange habe ich keinen Artikel in der Rubrik Studieren mit Sehbehinderung veröffentlicht. Das lag mit unter daran, dass mir die Ideen für weitere Beiträge gefehlt haben. Deswegen habe ich jetzt kurzerhand beschlossen, die Rubrik allgemeiner zu halten, damit auch andere Beiträge darin Platz finden.

Wie ihr sicher mitbekommen habt, gelte ich seit Anfang des Jahres als gesetzlich blind. Und das obwohl ich noch etwas sehe. Wie das funktioniert, wie Blinde wirklich sehen und wie sich mein Sehrest seit den letzten vier Jahren verändert hat, erfahrt ihr hier.

Blind nach dem Gesetz

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) fasst die internationalen Kriterien für Blindheit zusammen. Diese gelten aber nur zum Teil in Deutschland.
Hier als gesetzlich blind gilt:

  • Wer auf dem besseren Auge weniger als 2% sieht.
    Ich denke, die Formulierung ist eindeutig.
  • Wer eine Sehbehinderung hat, die damit gleichzusetzen ist.

Medizinisch kenne ich mich nicht aus. Ich kann also nur auf das Wissen zurückgreifen, das ich vom hören sagen mitbekommen habe. Ich vermute daher, dass hierunter komplizierte oder degenerative (sich verschlechternde) Augenerkrankungen fallen.
Wer Beispiele möchte: Netzhauterkrankungen, oder Erkrankungen bei denen das Gesichtsfeld erheblich eingeschränkt ist.
Quelle: BSVSB – Blinden- und Sehbehindertenverband Südbaden

Wie sehen Blinde?

Hier muss erst einmal zwischen Menschen, die von Geburt an blind sind und spät erblindeten Menschen unterschieden werden:

Von Geburt an blind oder spät erblindet?

Da ich selbst sehbehindert bin, besteht mein Freundes- und Bekanntenkreis u.a. auch aus blinden Freunden. Und natürlich war da eine der ersten Fragen: “Wie siehst du eigentlich?”

Hier kommen wir gleich zum ersten Problem: Menschen, die von Geburt an blind sind, können diese Frage überhaupt nicht beantworten, da ihnen der Vergleich fehlt. Sie wissen nicht wie nichts oder schwarz aussieht.

Es kommt immer wieder vor, dass das Gegenüber dieses Argument nicht nachvollziehen kann. Das heißt, es ist dann oft einfacher schwarz zu antworten, damit endlich Ruhe ist und man sich wieder anderen Gesprächsthemen zuwenden kann.

Es gibt aber auch Menschen, die spät erblindet sind. Das heißt sie sind im Laufe ihres Lebens blind geworden. Hier gibt es oft präzisere Antworten auf die Frage nach dem Sehen.

Die Sache mit den Prozenten

Wie ihr oben lesen konntet, gilt man in Deutschland bereits als blind, wenn man weniger als 2% sieht. Da stellt sich die Frage: Was bedeutet das in der Praxis?

Und auch hier wird es wieder sehr subjektiv. Ich kenne Leute, die beispielsweise keine Schwarzschrift (die normale Schrift) mehr lesen können. Allerdings können sie Personen als Schemen wahrnehmen und sich auch am Lichtschein orientieren. Dieser
Personenkreis kommt im Straßenverkehr ohne den Langstock (Blindenstock) nicht zurecht, versucht den übrigen Sehrest aber so gut es geht für sich zu nutzen.

Je nachdem wie stark die Sehbehinderung ist, kann es schwierig werden, Farben voneinander zu unterscheiden. Der Klassiker ist die blau-grün Verwechslung.

Dann gibt es aber noch die Spezialisten, wie mich, die um die 2% sehen, Schwarzschrift Bücher lesen können, aber Mühe haben sich in Räumen oder im Straßenverkehr zu orientieren. Mehr zu meinem Sehrest findet ihr weiter unten .

Die komplizierten Augenerkrankungen

Ich habe beispielsweise Menschen kennengelernt, die als gesetzlich blind gelten und wunderbar im Alltag zurechtkommen. Sie benötigen bis auf eine Lupe fast gar keine Hilfsmittel und kommen auch mit der Schwarzschrift (der normalen Schrift) super klar. Warum sie dennoch als blind gelten? Weil sie komplizierte Augenerkrankungen haben, deren Krankheitsverlauf nicht absehbar ist oder sich der Sehrest im Laufe der Zeit verschlechtern kann.

Und wie sehe ich?

Obwohl ich als gesetzlich blind gelte und keine seltene Augenerkrankung habe, sehe ich nicht nichts.
Mir ist es wichtig, zu betonen, dass ich eben noch etwas sehe. Das liegt mitunter daran, dass viele Menschen denken, dass blind sein bzw. als blind gelten im Umkehrschluss nichts sehen bedeutet. Das heißt, es kann sehr irritierend werden, wenn ich mich in einer mir vertrauten Umgebung sicher bewege, oder sie sehen, dass ich beispielsweise ein normales Buch nehme und mithilfe eines Hilfsmittels lese.

Aber kommen wir zum Eingemachten:

Die Fakten

Nach wie vor bin ich auf dem linken Auge blind, was ganz einfach daran liegt, dass mein linkes Auge nicht vorhanden ist und ich daher logischerweise auch nichts sehen kann. Das war schon immer so und wird sich wahrscheinlich in den nächsten Jahren nicht ändern. Außer natürlich ich komme irgendwie an das Auge von Mad Eye Moody.

Auf dem rechten Auge sehe ich mittlerweile 2%. Im Alltag bedeutet das aber, dass mein Sehrest tagesformabhängig ist. Für diejenigen unter euch, die schon mal einen Sehtest für den Führerschein machen mussten: An guten Tagen erkenne ich die erste, größte, Zahl, die an die Wand geworfen wird. An schlechten funktioniert das leider nicht.
Daher muss unterschieden werden:

Wie sehe ich an guten Tagen?

An guten Tagen habe ich keine Mühe Bücher zu lesen und verbringe schon mal gerne den ein oder anderen Nachmittag hinter spannender Lektüre.
Es fällt mir nicht schwer, mich in mir bekannten Räumen zu orientieren. Das können z.B. das Gelände meiner Hochschule oder das Haus meiner Eltern sein.

Im Straßenverkehr bewege ich mich dennoch mit meinem Langstock. Ich kann an guten Tagen Personen zwar besser ausweichen. Dennoch gibt es immer Kandidaten, die ich übersehe und denen ich dann entweder vor die Füße renne oder sie mir.

Auch an guten Tagen kann ich im Straßenverkehr Personen im vorbeigehen nicht erkennen. Ich erkenne zwar, dass da jemand steht, aber mehr auch nicht.

In Seminaren an der Hochschule ist es dann meistens so, dass ich meinen linken und rechten Sitznachbarn erkennen kann. Alles was darüber hinausgeht, nehme ich nicht wahr. Ich kann zwar erkennen, dass ein Dozent vorne steht, mit der Mimik und Gestik kann ich nichts anfangen.

Daher ist es wichtig, dass mich die Leute ansprechen, wenn sie etwas von mir wollen, weil es ihnen sonst passieren kann, dass ich eiskalt an ihnen vorbei laufe und eben nicht auf sie reagiere. (Aber dieses Phänomen kennen die Buchmessen Besucher unter euch ja sicher auch. Und ihr seid mit zwei funktionierenden Augen ausgestattet).

Wie sehe ich an schlechten Tagen?

An schlechten Tagen ist das mit dem Sehrest dann oft etwas kniffliger. Ich brauche um einiges länger um Wörter lesen zu können, wobei das wahrscheinlich mehr ein subjektives Empfinden ist. Buchstaben oder Texte vergrößern bringt hier nichts, weil ich das Gefühl habe, dass ich alles etwas vernebelt oder verschwommen wahrnehme.

An solchen Tagen habe ich auch Mühe Personen in Räumen zu erkennen. Da ist es egal, ob ich die Personen kenne oder nicht. Das heißt, ich bin mir nicht sicher, ob jetzt jemand im Raum sitzt, oder nicht.

Wie komme ich mit meinem Sehrest zurecht?

Die Hilfsmittel Frage

Demnächst ist das ein oder andere Video geplant, in dem ich manche meiner Hilfsmittel vorstellen möchte. So könnt ihr live miterleben, wie sie funktionieren.

Daher an dieser Stelle nur so viel: Zum lesen benutze ich Geräte, die mir die Texte vergrößern und mit denn ich den Kontrast verstellen kann. (Ich lese mit weißer Schrift auf schwarzem Hintergrund).
Eine stinknormale Lupe reicht bei mir mittlerweile nicht mehr aus. Die Lupe benutze ich nur, für die Smartphone Aktivitäten.

Wie oben schon erwähnt, bin ich im Straßenverkehr mit meinem Elderstab (dem Langstock / Blindenstock) unterwegs. Warum? Innerhalb des letzten Jahres hatte ich das Gefühl, dass mir alle möglichen Leute vor die Füße laufen oder für mein Empfinden zu dicht an mir vorbei laufen und ich keine Möglichkeit habe, ihnen rechtzeitig auszuweichen. Mit dem Elderstab hab ich meistens freie Bahn.

Der psychosoziale Aspekt

Das hängt ebenfalls von meiner Stimmung ab. Je schlechter mein Sehrest ist, desto mehr muss bzw. sollte ich kommunizieren und Dinge erfragen. Zum einen, damit mein Umfeld sicherer im Umgang mit mir wird z.B. nicht denkt, ich würde es ignorieren oder ich würde gedanklich abschweifen, wenn ich nicht auf Anhieb reagiere.

Zum anderen aber auch, weil ich auf Informationen angewiesen bin, wie z.B. welche Straßenbahnlinie gerade einfährt oder die Frage, wie viele Personen sich in einem Raum befinden.

Allerdings fällt es mir – je nach Moment – oft noch schwer in bestimmten Situationen zu rechtzeitig zu reagieren, Dinge zu erklären, oder um Hilfe zu bitten.
So nehme ich beispielsweise bei manchen Situationen erst im Nachhinein wahr, dass mein Gegenüber womöglich gedacht hat, ich würde mich nicht für ihn interessieren.

Oder ich habe einfach keine Lust zu fragen oder zu kommunizieren wie beispielsweise bei der Straßenbahn-Geschichte. Hier habe ich eine Strategie mit der ich wortwörtlich ganz gut fahre.

Das Einzige, was mir wirklich fehlt, ist das Lesen von Büchern, das ich früher definitiv öfter gemacht habe. Hörbücher sind zwar eine absolut geniale Alternative, auf die ich nicht verzichten möchte. Dennoch ist es auch toll, die Worte einer Geschichte selbst mit den Augen aufzusaugen. Und natürlich ist es toll die Wahl zu haben und sich das Medium, das man wählen möchte selbst auszusuchen und nicht darauf ausweichen zu müssen.

Es ist aber nicht so, dass ich Dingen hinterher trauere, die ich noch nie machen konnte, wie beispielsweise Fahrrad fahren. Zudem glaube ich auch, dass ich eine wahnsinnig verpeilte Autofahrerin wäre. Seid also froh, dass ich die Straßen so schnell nicht unsicher machen werde.

Noch Fragen…?

Ich glaube, dieser Beitrag ist jetzt doch etwas anders geworden, als eigentlich beabsichtigt.
Wenn ihr noch offene Fragen habt, haut sie in die Kommentare!

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Zu meiner Person:

Ich bin von Geburt an auf dem linken Auge blind und auf dem rechten Auge hochgradig sehbehindert. Seit 2017 beträgt mein Sehrest 2%, was bedeutet, dass ich nach dem Gesetz als blind gelte. In der Praxis heißt dass: Ich…

  • Habe Mühe mich in unbekannten oder schlecht beleuchteten Räumen zu orientieren
  • Erkenne mir bekannte Personen nicht im Vorbeigehen
  • Laufe mit einem Blindenlangstock (von mir als Elderstab betitelt) pendelnd durch die Weltgeschichte
  • Kann keinen Blickkontakt aufnehmen und mit der Mimik meines Gegenübers nichts anfangen
  • Kann Personen, die in unmittelbarer Nähe (linker, rechter Sitznachbar je nach Entfernung auch mein Gegenüber) erkennen, alles was darüber hinaus geht aber nicht

 

Eine Auswahl an Artikeln, die in dieser Rubrik bereits erschienen sind:

Wo und wie beantrage ich Hilfsmittel?
Für ein Praktikum bewerben
Wie beschaffe ich mir Fachliteratur?

4 Gedanken zu „Blind heißt nicht gleich nichts sehen“

  1. Sehr sehr interessant und danke für deine Offenheit =)

    Bei mir hat es ja vor etwa nem Jahr bekommen mittlerweiles sehe ich noch je 20 und 40 Prozent und die nächste Augen-OP steht Montag an, prinzipiell wird es aber eher schlechter als besser.
    Ich finde es sehr interessant zu lesen wie Menschen mit dieser "Behinderung" umgehen und zurecht kommen und wie ein guter Alltag damit möglich ist. Ich hoffe auf Dauer bekomme ich das auch irgendwann hin.

    Beim Lesen, liest du da in Büchern oder eher auf dem eBook-Reader? Da müsste man ja die Farbe umkehren können, oder? Und vor allem die Schriftgröße anpassen.

    Liebste Grüße,
    Vivka

    Antworten
  2. Hallo Vivka,
    es freut mich, wieder von Dir zu lesen.
    Super, dass Dir der Artikel gefallen hat. Ich bin mir da manchmal nicht sicher, ob es hin und wieder nicht etwas unstrukturiert wird 🙂

    Ich denke, es ist viel schwieriger mit einer Sehbehinderung oder drohenden Erblindung umzugehen, wenn man einfach den Vergleich zum "normalen" Sehen hat. Ich habe früher zwar besser gesehen, kenne es aber gar nicht mit zwei Augen sehen zu können. (Ich dachte früher immer, dass man mit dem einen Auge in die eine Richtung und mit dem anderen in die andere Richtung schauen kann. Sonst hätte das mit den zwei Augen für mich ja keinen Sinn ergeben 🙂 ).
    Von daher finde ich es wichtig, dass Du Dich da nicht unter Druck setzen lässt. Jeder braucht seine Zeit.

    Nein, eReader nutze ich gar nicht. Ich hab mir zwar mal den tolino angeschaut, allerdings kann man da den Kontrast nicht verstellen. Und so lange das nicht geht, brauche ich damit gar nicht anzufangen. Ich habe ein Standgerät unter das ich die Bücher legen kann. Hier kann ich sie individuell vergrößern und den Kontrast anpassen. Allerdings ist das Lesen auf dem Sofa damit nicht möglich. Jedoch gibt es mittlerweile elektronische Lupen, die die "Kontrast Funktion" ebenfalls haben. Die Lupe war eine der besten Hilfsmittel Anschaffungen in letzter Zeit.

    Falls Du Adressen von Hilfsmittelfirmen brauchst, gib einfach Bescheid. Die Firmen machen Hausbesuche und bringen auch jede Menge Geräte zum ausprobieren mit. Auch die Beantragung bei der Krankenkasse wird von der Firma übernommen.

    viele Grüße
    Emma

    Antworten
  3. Die sind super, aber ich kenne das, wenn ich denke, ein Beitrag ist eher so semi gut, finden es die Leute mit am besten ^^

    Hehe das mit den zwei Augen ist echt interessant, aber durchaus logisch wie du es gedacht hast, weil, wozu brauch man denn sonst zwei Augen? Hm … ^^

    Ah verstehe, die Oma meines Freundes hat auch sowas, daher weiß ich auch genau was du meinst =)
    Das mit dem Kontrast ist schade, vielleicht wird das ja noch irgendwann eingebaut =)

    Oh danke schön, werde ich auf jeden Fall machen wenn es mal so weit kommt, momentan wird ja noch alles getan um es "normal" zu halten! Aber ich danke dir schon einmal im Voraus =)

    Liebste Grüße,
    Vivka

    Antworten
  4. Guten Abend Vivka,

    es freut mich wieder von dir zu lesen.
    Ich drücke dir natürlich die Daumen, dass bei dir Therapietechnisch soweit alles gut geht und du so lange wie möglich gut siehst!

    Ich wünsche dir einen guten Start in die neue Woche!

    viele Grüße

    Emma

    Antworten

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