Der Märchenerzähler

Das Hörbuchcover von "Der Märchenerzähler".
Bild von audible

Der Inhalt

Triggerwarnung: Suizid, Vergewaltigung, Stalking.

Der Inhalt hat es in sich. Anna lernt Abel kennen und lieben. Doch beide leben in verschiedenen Welten. Während Anna mit ihren Eltern in einer Reihenhaussiedlung lebt, wohnen Abel und seine kleine Schwester Micha in einem Plattenbau. Die Mutter sei verreist und die Geschwister sind auf sich allein gestellt. Abel versucht den Alltag so gut es geht aufrechtzuerhalten. Doch die Fassade bröckelt.

Die Handlung hat mich sehr bewegt. Es werden viele schwierige Themen angesprochen: An erster Stelle die verschiedenen sozialen Schichten in denen Anna und Abel leben. Abel möchte raus, studieren und seiner Schwester ein anderes Leben ermöglichen. Doch dafür muss er das Abi schaffen.
An zweiter Stelle die Frage, wie viel ein Mensch tut um einen anderen Menschen zu schützen. Abel würde für seine Schwester alles tun. Aber wo ist eine Grenze erreicht?
An dritter Stelle die Frage nach Partnerschaft, deren Möglichkeiten aber auch deren Grenzen.

Was Antonia Michaelis sehr gut gelingt: Die Beziehung zwischen Abel und Anna aufzubauen. Abel ist es gewohnt, sich allein durchzuschlagen, niemandem zu vertrauen und bloß keine Hilfe anzunehmen.
Anna sieht Abels Situation und will ihn nicht allein lassen, sondern helfen, wo es eben geht.
Die vorsichtige Annäherung, ein Schritt vor, zwei Schritte zurück, die Gedanken und Gefühle, die zwischen den Schritten liegen, hat die Autorin sehr gut herausgearbeitet.

Dennoch gibt es in Der Märchenerzähler Szenen, die nicht in einen Roman für 14-jährige Personen gehören. Mir ist es wichtig hier zwischen Themen und Szenen zu unterscheiden. Die Themen gehören wahrscheinlich zum Alltag vieler, auch junger, Menschen. Deswegen finde ich es wichtig, wenn sie in der Literatur angesprochen werden.

Literatur hat aber auch oft die Funktion Personen eine Auszeit aus dem eigenen Alltag zu ermöglichen. Daher frage ich mich, ob ein Jugendbuch der richtige Ort für ausführliche Beschreibungen ist und ob Andeutungen nicht sinnvoller gewesen wären.

Die Hörbuchgestaltung

Auch die Hörbuchgestaltung lässt mich hin- und her gerissen zurück. Das hat vor allem einen Grund: Bei diesem Titel ist mir erstmals bewusst geworden, wie sich Kürzungen auf ein Hörbuch auswirken können. Aber beginnen wir von vorn: Das Hörbuch ist als gekürzter Titel von Oetinger Audio produziert worden. Anscheinend ist das Hörbuch nur noch über Audible erhältlich. Jedenfalls konnte ich auf der Verlagsseite und auch im Onlineshop meiner Lieblingsbuchhandlung, die ihr Sortiment über Libri beziehen, keinen Vermerk zum Hörbuch finden.

Die Produktion an sich ist super. Es liest Ulrike C. Tscharre, die die Atmosphäre wirklich gut in Worte fassen kann und die Stimmung gut herausarbeitet. Sie hat mir die einzelnen Figuren und ihre Motive nähergebracht.

Außerdem hat sich der Verlag ein paar kleine, aber feine Stilmittel überlegt. Zwischen einzelnen Szenen oder Kapiteln gibt es Musik, welche die Atmosphäre gekonnt untermalt. Wenn die Handlung traurig oder nachdenklich wird, gibt es ein langsames Musikstück. Wenn wir aber eine wichtige Info bekommen, welche die Handlung vorantreibt, wird die Musik schneller. In der Handlung gibt es immer wieder Telefonate zwischen den Figuren. Hier klingt Ulrike C. Tscharre beim Lesen dann etwas gedämpft, so als würde sie wirklich telefonieren.

Kommen wir nun aber zu meinen Kritikpunkten: Gemeinsam mit Freundinnen habe ich Der Märchenerzähler in einer Lese- bzw. Hörrunde gehört. Sie haben gelesen, ich habe gehört. Leider war es aufgrund der Hörbuchgestaltung nicht möglich, den Titel, wie bei Leserunden üblich, in unterschiedliche Abschnitte einzuteilen. Dass bei einem gekürzten Hörbuch Absätze fehlen, ist keine Seltenheit. Da der Titel bereits 2011 erschienen ist, gehe ich auch davon aus, dass inzwischen sensibler gekürzt wird. Jedoch stimmten dadurch die Übergänge am Ende des Kapitels nicht immer oder mir fehlten Informationen über bestimmte Figuren, die aber wichtig für die gesamte Handlung waren.

Außerdem konnte ich keine Struktur im Einblenden der Musik erkennen. Erst dachte ich, dass ein Musikstück nur den Übergang zwischen den Kapiteln kennzeichnet. Dann stellte sich aber heraus, dass es innerhalb der Kapitel auch Absätze gibt. Längere Musikstücke waren also nicht nur für den Übergang zwischen den Kapiteln gedacht, sondern auch um einen Bruch zwischen den Absätzen einzubauen. Das Problem wurde dadurch verstärkt, dass die Kapitelnamen nicht genannt wurden und das obwohl die Kapitel im Printbuch Namen haben.

Was mir sehr geholfen hätte wäre, wenn es bei der Musik eine Struktur gegeben hätte. Die Musikstücke, die einen neuen Absatz einleiten könnten beispielsweise kürzer sein, als die Musikstücke, die zwischen den Kapiteln stehen. Leider gab es aber auch innerhalb der Kapitel längere Musikstücke.

Der Schreibstil

Antonia Michaelis Schreibstil hat mich fasziniert. Eines der Stilmittel, die ihren Schreibstil auszeichnen sind vor allem sprachliche Bilder, welche ihre Wirkung zeigen. Sie haben mir die Emotionen der Figuren nähergebracht und mir das Gefühl gegeben, die Geschichte mit den Figuren zu erleben und nicht erzählt zu bekommen.

Womit ich mich aber schwer tue: Es gibt ein Thema, bei dem ich mir mehr Reflexion gewünscht hätte. Anna muss sich mit Dingen auseinandersetzen, die aus meiner Sicht nicht innerhalb weniger Tage abgehakt sein können. Mir fehlte die Auseinandersetzung mit den Themen. Es ging mir an der Stelle zu schnell voran. Dennoch war ich froh, dass die Begründung für das schnelle Weitergehen nicht fehlte. So blieb mir die Entscheidung zwar fremd, aber ich konnte die Begründung nachvollziehen.

Gesamteindruck

Wieder einmal zeigt sich, dass sich mein Nicht-Klappentext lesen auf den Gesamteindruck auswirkt. Der Inhalt überraschte mich nämlich. Eigentlich hatte ich mit einer Fantasygeschichte gerechnet. Stattdessen gab es ein Hörbuch, das eine bewegende, tragische Geschichte erzählt. Ob ich das Hörbuch weiterempfehlen kann? Das hängt zum einen davon ab, welche Art von Geschichten ihr sucht und zum anderen was ihr sonst hört. Wer regelmäßig zu Titeln mit schwierigen Themen greift, hat hier sicher ein intensives Hörerlebnis.

Infos zum Hörbuch

Der Märchenerzähler
Geschrieben von: Antonia Michaelis
Gelesen von: Ulrike C. Tscharre
Bewertung: 4 von 5 Herzen

7 Gedanken zu „Der Märchenerzähler“

  1. Hi Emma!

    Das Buch hat ja damals sehr hohe Wellen geworfen weil viele nicht einverstanden waren, wie die Autorin Annas Entscheidungen entwickelt. Ich denke, das meinst du damit wenn du sagst, du konntest es nachvollziehen, auch wenn es dir "fremd" blieb. Ich denke ebenso.
    Es ist ein sehr heikles Thema – überhaupt sind viele schwierige Themen angesprochen worden, auch wenn ich mir nicht mehr allem so bewusst bin, es ist schon recht lang her, seit ich es gelesen hab. Dennoch hat die Autorin sehr realitätsnah geschrieben, so war zumindest mein Eindruck, und vor allem war es sehr eindringlich und deutlich, wie sehr manche Menschen mit ihren Situationen kämpfen müssen und welche Auswege sie sich suchen. Und manchmal eben auch handeln, obwohl sie das gar nicht wollen.

    Liebste Grüße, Aleshanee

    Antworten
  2. Guten Morgen Aleshanee,
    Dein Kommentar bringt den Schreibstil ziemlich gut auf den Punkt. Mir hat der Schreibstil sehr gut gefallen. Das damals so viel über das Buch diskutiert wurde, habe ich nicht mitbekommen.
    Kürzlich habe ich gelesen, dass im August Band 2 erscheinen wird. Ich weiß noch nicht, wie ich das finden soll, weil ich das Ende – obwohl es sehr traurig ist – irgendwo auch stimmig finde und Band 2 erahnen lässt, dass Dinge aufgerollt werden. Aber genug der Andeutungen :).
    Vielen Dank fürs vorbeischauen!

    viele Grüße

    Emma

    Antworten
  3. OH, von einer Fortsetzung hab ich tatsächlich noch gar nichts gehört! Wie die aussehen soll, kann ich mir grade auch nicht vorstellen – vor allem müsste ich dann das hier nochmal lesen, weil ich wirklich viel vergessen hab.

    Antworten
  4. Hallöchen ihr beide!
    Ich stehe dem zweiten Band sehr kritisch gegenüber. Ich habe den "Märchenerzähler" geliebt, obwohl ich sonst nur Heile-Welt-Bücher lese, aber ob mir eine Fortsetzung das nicht eher verdirbt..? Vermutlich höre oder lese ich ihn trotzdem 😀

    Zu der sensiblen Stelle – ich finde, dass Emma es ganz gut formuliert hat mit dem Unterschied von Themen und Szenen. Es wäre cool, wenn es Triggerwarnungen in Büchern gäbe oder eine Webseite mit einer Sammlung zu dem Thema.

    Liebe Grüße
    Mone

    Antworten
  5. Hi Mone,
    du hast mich gerade erinnert, dass der zweite Band bald erscheint. Ich glaube nicht, dass ich ihn so bald hören werde, weil die Gefahr gefühlt zu groß ist, dass der zweite Band einfach nicht gut ist, oder inhaltlich auch den ersten Band in Frage stellt, was ich schade fände. Dennoch: Die Autorin hat halt einen tollen Schreibstil.

    Und die Seite mit den Triggerwarnungen wäre echt eine spannende Geschäftsidee. Es könnte im Grunde wie eine Art Wikipedia-Prinzip funktionieren. Also alle Personen können Bücher eintragen. Allerdings bräuchte es dann auch klare Richtlinien was die Trigger betrifft.

    viele Grüße

    Emma

    Antworten
  6. Hi Mone! Ich hab den zweiten Band schon gelesen und da ist eine Triggerwarnung drin 😉
    Ich fand ihn gut – kommt aber (für mich) an den ersten nicht ganz heran. Aber man erfährt einiges über Abel, was sein Verhalten aus dem ersten Band noch besser erklärt.

    Antworten
  7. Hi Aleshanee,
    (oh, Mann wenn ich erst alle Kommentare durchgegangen wäre, hätte ich euch beiden in einem Kommentar antworten können).
    Super, dass dir der zweite Band gefallen hat. Das beruhigt mich jetzt etwas und motiviert mich, die Geschichte vielleicht doch irgendwann zu hören.
    viele Grüße
    Emma

    Antworten

Schreibe einen Kommentar

Wenn Du einen Kommentar abgibst, werden die eingegeben Daten und Deine IP-Adresse gespeichert. Die E-Mailadresse wird nicht veröffentlicht. Weitere Informationen zur Datenspeicherung findest Du in meiner Datenschutzerklärung