Im Jahre der unbekannten Zeitrechnung – Stille Freuden

Ein Kranz in dessen Mitte eine 10 steht.

Sie war keine Frau der großen Worte. Es lag nicht einmal daran, dass sie nicht gerne sprach. Sie hatte durchaus viel zu erzählen. Nur eben nicht jedem. Um genau zu sein, war sie schüchtern. Aber schüchtern war so ein hässliches Wort. Sie stand allein in der Küche des Cafés und polierte die Gläser, während draußen die letzten Gäste verabschiedet wurden. Weihnachten war das Fest der Liebe. Und es gab nichts Schöneres als anderen Menschen eine Freude zu machen. Das Café war sehr gut besucht gewesen. Doch hatte kein bisschen Weihnachtsstimmung in der Luft gelegen. Obwohl sie Weihnachten liebte und wusste, dass ihre Gäste diese Liebe nicht mit ihr teilten, freute sie sich Fest um Fest in dem Café zu verbringen.

Warum? Sie war unter Menschen. Es wurde gelacht, getanzt und gesungen. Sie fühlte sich lebendig. Es war nicht so, dass sie sich an den anderen Tagen des Jahres unlebendig fühlte. Es fehlte etwas in ihrem Leben. Schon seit zwei Jahren. Seit er eines Tages den steifen Salon verlassen und sie mit der langweiligen Familie zurückgelassen hatte. Doch seine Abwesenheit hatte ihr Tür und Tor geöffnet. Sonst wäre sie nie ihrem großen Traum nachgegangen, ein eigenes Café zu verwirklichen. Während sie der Umgang mit Worten verunsicherte, wussten ihre Hände genau, wie man guten Kuchen backte, Teige schuf und Essen ein schönes Gesicht gab.
„Ich mach dann mal Feierabend“, rief einer ihrer fleißigen Helferlein.
„Ist gut“, antwortete sie und hörte, wie er die Ladentür schloss.

Obwohl es wie immer ein wunderbares Fest gewesen war, musste sie am Ende des Tages immer an ihn denken. Den Bruder, der ihr schon verborgen geblieben war, als sie noch unter einem Dach gelebt hatten. Nachdem die Küche auf Vordermann gebracht worden war, warf sie einen letzten Blick in den Caféraum. Sie betrachtete den schön geschmückten Weihnachtsbaum und ließ den Abend vor ihrem geistigen Auge Revue passieren. Doch ein leises Kratzen riss sie aus ihren Erinnerungen. Sie zuckte zusammen. War es eine Katze? Ein Gast, der etwas vergessen hatte? Oder doch das fleißige Helferlein? Das Café war nur spärlich beleuchtet. Sie musste sich also erst der Tür nähern, um den Überraschungsgast erblicken zu können. Vorsichtig bewegte sie sich auf die Glastür zu und machte auf dem Weg dorthin das Deckenlicht an. Bei der Tür angekommen erstarrte sie. Draußen stand ein Mann, gehüllt in einen dünnen Mantel. Sie musste nicht lange überlegen, wer da vor ihr stand. Er war dünn geworden. Die Tür war schnell geöffnet. Doch als sie sich dann gegenüberstanden, musterten sie sich verlegen. Wie viel Zeit war doch gleich vergangen?
„Du bist dünn geworden“, war das erste, was ihr über die Lippen kam.
„Du hast deinen Traum verwirklicht“, lächelte er.
Und da gab es kein Halten mehr. Weihnachten war das Fest der Liebe, Freundschaft und Familie. Endlich hatte sie einen wichtigen Teil ihrer Familie wiedergefunden.

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