Im Jahre 1986 – Das Ziel erreicht?

Ein Kranz in dessen Mitte eine 11 steht.

Mein ganzes Leben lang hatte ich darauf hingearbeitet. Nun war der Tag endlich gekommen und ich fühlte mich matt und erschöpft. Alle hatten sie mich gefragt: „Was hast du es denn so eilig? Dein Tag wird noch kommen.“

Doch ich hatte kaum still stehen können. Endlich wollte auch ich zu den Großen gehören. Das Gefühl haben, gebraucht und geliebt zu werden. Doch die Weisen unserer Runde hatten mich nur belächelt: „Du hast wirklich keine Ahnung, Winzling. Wenn du einmal so alt bist, wie wir, wirst du verstehen, warum wir froh sind, hier zu stehen.“
Einer von ihnen hatte gefrotzelt: „Wenn er sein Ziel erreicht, wird er nicht hier stehen.“

Damals war mir die Bedeutung des scherzhaften, aber doch ernsthaft gemeinten Satzes nicht bewusst gewesen. Nun erahnte ich, was er mir damals sagen wollte. Doch es war nicht mehr zu ändern. Mein Schicksal war besiegelt.
„Den will ich haben“, hatte sie gerufen und auf mich gezeigt. Vor lauter Schreck war ich innerlich zusammengezuckt. Die meisten hatten mich bisher übersehen und die Weisen hatten schon gefrotzelt, dass ich das Camp, wie sie unser Zuhause nannten, auch dieses Jahr nicht verlassen würde.
Gesagt getan. Die Axt war geholt und ich wurde verpackt. Dass ich mehrere Tage allein auf einem Balkon zubringen sollte, hatte mir keiner verraten. Aber wer hätte auch davon erzählen sollen? Alles was über das Camp hinausging, waren wilde Gerüchte. Sicher war nur: Keiner würde jemals nach Hause zurückkehren.

„Übertreibt’s nicht“, war den Kindern gesagt worden.
Doch als sie mich mit Kugeln, Lametta und Lichterketten bestückten, gab es kein Halten mehr. Nun war ich vor eine Herausforderung gestellt: Kraftlos zusammenbrechen, oder die Last voller Stolz tragen? Ich entschied mich für letzteres. Am Abend konnte ich mich im Wohnzimmerfenster bewundern und musste feststellen, dass die Kinder wirklich gute Arbeit geleistet hatten.
Heute war also Weihnachten. Der Tag auf den ich lange genug hingearbeitet hatte. Die Euphorie ebbte ab. Meine Mission war fast erfüllt. Der Tag beinahe geschafft. Die Kinder schliefen und ich ahnte, dass es an der Zeit war, Abschied zu nehmen. Denn so viel hatten mir die Weisen verraten: „Sie werden dich nicht ewig bei sich aufnehmen.“

Ich blickte dem Ende mit gemischten Gefühlen entgegen. Die Mission war erfüllt, keine Frage. Kinderaugen hatten geleuchtet und noch nie war mein Antlitz so schön gewesen. Doch ich hatte auch Angst. Vor dem, was nach der Mission kommen würde. Stand mein Tod kurz bevor? Oder gab es irgendwo einen neuen Platz für mich? Hoffnung machte sich breit: Vielleicht sah ich ja dann den Rest der Familie wieder.
„Wir bauen ihn morgen ab“, bemerkte die Mutter der Kinder. Das Wort Verwandtschaftsbesuche war im Laufe des Tages oft gefallen.
Jetzt wo das Ende kurz bevor stand, erfüllte mich nur noch Leere. Ich fällte eine Entscheidung: Den Tag genießen, bis zum letzten Augenblick.

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