3. Türchen – RumtreiBär

Ein Kranz in dessen Mitte eine 3 steht.Weihnachten ist auch nur ein Tag, wie jeder andere. Morgen benötige ich ebenfalls einen Schlafplatz und etwas zu essen. Irgendwo, wo mich keiner stört. Am liebsten würde ich mich in einem Laden einschließen lassen. Aber meistens fliege ich dann doch auf. Entweder sie erkennen meinen Geruch oder sie gehen bei der letzten Runde zu gründlich vor. Dabei lege ich großen Wert darauf, keinen Ärger zu machen. Sie können ja auch nichts für meine Lage.

»Kommst du morgen auch mit? Es gibt bestimmt wieder gutes Essen?«, wurde ich von meinem Kumpel gefragt.
Wir saßen an einer der Nebeneinkaufsstraßen. Zu abseits um den Polizisten aufzufallen, aber immer noch zentral genug um doch etwas Geld abzweigen zu können. Klauen war nicht unser Stil. Soweit waren wir noch nicht gesunken.

Meist beherrschte er den treuen Blick und ich verwickelte potentielle Interessenten dann in ein Gespräch und erzählte ihnen von unserem Leben.
Wenn sie uns kein Bargeld da ließen, kauften sie uns meist etwas vom Bäcker um die Ecke. Und das stellte uns schon völlig zufrieden. Wir führten ein einfaches Leben. Es war okay, nicht übermäßig toll, aber in Ordnung.

»Hast du die ganzen Säufer vergessen? Ich hab dieses Jahr keine Lust schon wieder von irgendwem dumm angemacht zu werden. Das ist es mir echt nicht wert«, murrte ich.
»Ach, komm schon. Es ist doch gar nicht so schlimm. Nach einer halben Stunde sind sie doch sowieso meistens wieder weg.«
Ja, nur um draußen in einer dunklen Ecke auf uns zu warten, dachte ich. Jedes Jahr das Gleiche. Als sie uns letztes Jahr beinahe windelweich geprügelt hätten, habe ich mir geschworen, dass dieses Jahr alles anders kommen wird. Wo ich Weihnachten stattdessen verbringen wollte? Ich hatte absolut keinen Plan. Aber das war auch das Verlockende an meinem Leben. Verzeihung, unserem Leben.
»Ich hab dir doch gesagt, wir feiern dieses Jahr woanders«, erklärte ich ausweichend.
»Und wo zum Henker? So viele Möglichkeiten haben wir leider nicht, mein Freund.« Er blickte traurig zu Boden.

Seine Eltern hofften immer noch darauf, dass er zumindest an Weihnachten nach Hause kommen würde. Meine hatten die Hoffnung schon längst aufgegeben. Wenn ich ihnen doch zufällig einmal über den Weg lief, wichen sie meinem Blick aus. So als wäre es ihnen peinlich, den eigenen Sohn am Straßenrand sitzen zu sehen. Dabei tat ich nichts Unrechtes. Ich beklaute keine Menschen, besetzte keine Häuser und besoff mich nicht. Obwohl ich schon oft mit dem Gedanken gespielt hatte.

Im Winter war mir dann zumindest warm. Aber der Alkohol vernebelte das Gehirn. Und ich brauchte meine grauen Zellen. Denn es gab genug Feinde auf der Straße.
»Lassen wir uns überraschen. Irgendetwas wird sich schon finden«, antwortete ich.
»Das sagst du immer«, seufzte er.
»Dann schlag was vor«, konterte ich.
»Heilsarmee willst du nicht, die Kirche geht auch nicht«, überlegte er weiter.

Wir schwiegen und ließen die Menschen an uns vorbeiziehen. Sie hetzten durch die Straße, auf der Suche nach den letzten Weihnachtsgeschenken. Es war schon eine Ewigkeit her, als ich das letzte Geschenk bekommen hatte. Ich konnte mich aber noch genau daran erinnern. Es war ein Bilderrahmen gewesen. Und der Kommentar dazu, ärgerte mich heute noch: »Picasso braucht ja ordentliches Werkzeug.«

Werkzeug, Pah! Wie zum Henker sollte ich diesen bescheuerten Rahmen füllen, wenn ich kein Geld für ordentliche Stifte und Papier hatte? Das war Werkzeug, das ich wirklich gebrauchen konnte. Aber dafür musste ich natürlich selbst aufkommen.
»Wer Künstler sein will, der muss auch was dafür tun. Wir können dich nicht dein Leben lang durchfinanzieren, Junge.«

Der Rahmen war wohl ihre Art der Motivation. Wenn du dich anstrengst, wirst du ihn irgendwann füllen können, hatte ich mich damals beruhigt. Sie hatten eben noch nie verstanden, was ich wirklich wollte.
Und aus diesem Grund war ich ausgezogen. Sie konnten mich nicht mehr durchfinanzieren? Dann würde ich eben selber schauen, wie ich im Leben klar kam. Und bisher klappte es wirklich gut.
»Ich muss dann mal los.«

Er stand langsam auf. Ich ahnte, dass er doch noch auf eine Lösung von mir hoffte. Aber ich hatte keine. Und als ich das mit meinem Schweigen bestätigte, schien er es zu verstehen. Denn er kam in Bewegung.
«Wir sehen uns dann später», verabschiedete ich ihn.

Nach einer Stunde vergeblichen Wartens hatte auch ich unseren Stammplatz verlassen und schlich durch die Straßen. Ich mochte die allabendlichen Touren. Vorbei an Läden, die ich früher häufiger besucht hatte. Am Tag vor Weihnachten hatte ich nur ein Ziel: der Spielzeugladen. Der Laden meiner Träume. Zumindest in meiner Kindheit. Ich beobachtete das Treiben aus sicherer Entfernung. Schließlich wollte ich niemanden verschrecken. Ein Junge, der auf der Straße lebt, macht objektiv betrachtet nicht unbedingt einen guten Eindruck auf Eltern, die einfach nur mit ihren Kindern einkaufen möchten. Das war mir schon klar.

Im Laden war einiges los. Kinder beäugten staunend die Regale, nahmen einzelne Spielsachen heraus und untersuchten sie genau. Entweder waren ihre Eltern damit beschäftigt, ihre Sprösslinge zu bewachen und gelegentlich ängstliche Kommentare von sich zu geben – ich konnte sie hier draußen natürlich nicht hören, dachte mir anhand der kritischen Gesichtsausdrücke aber die entsprechenden Dialoge – oder sie blickten abwesend auf ihr Smartphone und schenkten ihren Kindern nur wenig Beachtung.

Ein Mädchen verließ leise den Laden. In der Hand hielt sie einen Bären. Ich schmunzelte. Er war aus der kreativen Bärenabteilung. Die mit den komischen Namen. Wenn uns nach Flachwitzen zumute war, schlichen wir manchmal hinein und lasen die neusten Ausgaben. Mein Highlight war der RumtreiBär. Früher hatte ich mir einen echten Bären gewünscht. Andere Jungs in meinem Alter hatten Hunde. Warum also sollte ich nicht einen Bären haben? Mein Vater hatte nur gelacht und mich gefragt, ob ich verrückt geworden sei. Wenn ich heute darüber nachdenke, war seine Reaktion wohl verständlich.

Das Mädchen blieb unsicher vor dem Laden stehen und blickte sich suchend um. Wo waren ihre Eltern? Keiner war so verrückt, sein Kind alleine in einen Spielwarenladen zu schicken. Such dir was aus hat noch nie irgendwo funktioniert, schoss es mir durch den Kopf.

Das Mädchen setzte sich auf die Stufen an der Eingangstür und blickte den Bären fragend an. Nach ein paar Minuten stand sie auf und lief die Straße entlang. Ich wartete kurz. Niemand schien ihr zu folgen. Ich konnte nicht genau sagen, wie alt sie war. aber eins war mir klar: ZU jung, um alleine an einem Winterabend durch unsere Innenstadt zu streifen. Also heftete ich mich an ihre Fersen.
»He, was machst du hier?«
Ängstlich blickte sie mich an.
Wunderbar, Junge! Jetzt auch noch keine Kinder verschrecken. Du hast es wirklich weit gebracht in deinem Leben. Man kann es nicht anders sagen.
»Keine Angst, ich tu dir nichts«, erklärte ich schnell und ging demonstrativ ein paar Schritte zurück.

»Das hat er mir auch gesagt. Aber meine Mama hat gesagt, ich darf nicht mit Fremden reden«, antwortete sie leise und blickte zu Boden.
»Wer, er?«, fragte ich irritiert.
»Na, er hier!« Zur Bestätigung hielt das Mädchen den Bären in die Höhe. Ich lächelte. Sie hatte sich für den SauBären entschieden. Das Kind hatte Geschmack.
»Wo ist denn deine Mama?«, fragte ich vorsichtig.
Die Straße war verlassen. Niemand schien die skurrile Szene aufzufallen. Ein Junge, dem man wahrscheinlich nicht über den Weg traute und der gerade versuchte ein kleines Mädchen in ein Gespräch zu verwickeln. Normalerweise würden sich Passanten einschalten, oder? Mittlerweile war ich mir nicht so sicher. Am Tage vor Weihnachten war doch im Grunde nur jeder mit sich selbst beschäftigt.

»Sie kommt bestimmt gleich. Er hat gesagt, ich muss auf sie warten. Aber mir ist so langweilig«, antwortete das Mädchen schließlich.
»Hat sie dir auch gesagt, wo du warten sollst?«, fragte ich alarmiert. Ihre Mutter würde sie nie im Leben finden, wenn sie eine Tour durch die Stadt machte. Sie schüttelte den Kopf.

Na, toll! Perfekt! «Wie heißt du denn?», fragte ich weiter.
Ich hätte sie im Grunde gleich nach ihrer Adresse fragen und zu Hause abliefern sollen. Obwohl diese Idee so dermaßen naheliegend war, fiel sie mir in diesem Moment nicht ein. Und das war auch gut so. Denn sonst hätte sich mein Leben wohl nie geändert. Und das alles hatte ich nur unserem Weihnachtsfest zu verdanken.
»Mama sagt, ich darf das nicht verraten«, antwortete sie bestimmt, nachdem sie dem Bär einen fragenden Blick zugeworfen hatte.
»Ich bin der RumtreiBär«, kam es wie aus der Pistole geschossen.
Keine Ahnung, warum ich dem Mädchen diese Geschichte auftischte. Aber sie kicherte.
»Ein lustiger Name«, entgegnete sie.
»Dann lass uns mal einen sicheren Ort suchen, an dem wir beide bleiben können«, meinte ich.

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10 Gedanken zu „3. Türchen – RumtreiBär“

  1. Guten Morgen Anja,
    super, dass du gleich zwei Türchen an einem Tag lesen konntest :-).

    Ja, ich hab mich wieder etwas daran probiert, Handlungsstränge zu verknüpfen. Allerdings muss ich beim ein oder anderen Türchen noch etwas nachbessern.

    viele Grüße

    Emma

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  2. Ja, wer weiß? Vielleicht war ich nie in Frankfurt auf der Buchmesse… Und Leipzig habe ich auch nur aus der Ferne gesehen. (Wobei wir da knapp einer Nacht auf der Straße entkommen sind *hust*).
    Es freut mich sehr, dass es dir gefällt.

    viele Grüße

    Emma

    Antworten
  3. Arg! Ayasha. Dieses Kapitel macht voll aggressiv. Was zum Henker ist falsch mit denen?
    Und wie du das Leben auf der Straße beschreibst, ist schon ein bisschen assi…
    Also bisher gibt es noch keinen Charakter, der mir auch nur im mindesten sympathisch ist, aber trotzdem (oder deshalb) ist mein Interesse geweckt. Ich will wissen wie es weitergeht.

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  4. Ayasha? *blickt sich verwirrt um und sucht ihre zweite Persönlichkeit*
    Hach, das wird lustig, wenn sich hier die Grafikerin wieder einklinkt, der ich noch nichts von ihrem neuen Namen erzählt habe.

    Was heißt assi? Drogen und Alkohol spielen auf der Straße leider eine recht große Rolle. Aber Rumtreibär ist ja an sich ganz ok.

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  5. wieso gucken Eltern im Spielwarenladen ängstlich? Versteh ich nicht …

    Warum geht er mit ihr nicht in den Laden zurück, wo sie hergekommen ist, und geht zu einem Verkäufer. Da kann man Durchsagen machen. Herrje …

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  6. DIe Eltern schauen ängstlich, weil sie Angst haben, dass die Kinder etwas kaputt machen. Oder, dass die Kinder einen Wunschzettel mit tausend Sachen schreiben bzw. sich schreiend auf den Boden wrefen, wenn sie etwas nicht bekommen. Das ist alles schon passiert 🙂

    RumtreiBär hat bisher keine guten Erfahrungen mit Mitarbeitern von Läden gemacht. Viele begegnen ihn mit Vorurteilen. Und nicht zu vergessen muss die Geschichte ja auch in Gang gebracht werden 🙂

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