Im Jahre 2086

Ein Kranz in dessen Mitte eine 17 steht.

 

„Na, Frau Schmitz, waren die Kinder heute nicht wunderbar?“

„Total“, antwortete ich voller Ironie, die das freundliche Personal glücklicherweise nicht immer erkannte. Ich hasste Kinder. Schon von Beginn an. Was war ich froh, dass mich diese nervigen Wesen nicht auch noch an Weihnachten beehrten. Und dann zog ich in dieses glorreiche Haus… Aber gut: Ich will mal nicht meckern.
„Ist Horst schon wieder da?“, flüsterte ich meiner Sitznachbarin zu.
„Mein Horst kommt nimmer“, antwortete mein Gegenüber lächelnd.
Verdammt, das war die falsche Seite. Ich drehte mich zu meiner linken und fragte immer noch leise: „Wie sieht’s aus? Heute Abend nach der Übergabe?“
„Alles klar. Die Schwalbe kräht um neun.“
Wenigstens Herbert verstand unsere Codesprache.

Kurz vor 21 Uhr am Weihnachtsabend. Das Programm war beendet. Wir lagen in unseren Betten und warteten darauf, dass Schwester Sabine zu ihrer allabendlichen Runde ansetzte. Wenn sie es bis in unser Zimmer schaffte, war alles verloren. Aber wenn es nach Plan lief, sollten sich ihre Schritte sogleich von unserem Flur entfernen. Energisches Klackern rückte näher. Ich hielt die Luft an. Das Klackern verstummte. Und wandte sich abrupt ab. Ein Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus. Schon lange waren diese Gesichtsmuskeln nicht mehr benutzt worden. Vorsichtig bewegte ich mich aus dem Bett, schlüpfte in meine Hausschuhe und nahm meinen persönlichen Tarnumhang heraus. Was wäre ich froh gewesen, wenn dieses Ding auch seinen Zweck erfüllte und mir magischen Schutz verlieh. Wie damals dem jungen Harry…
Ich öffnete unsere Zimmertür einen Spaltbreit. Henriette schlief natürlich schon. Immer musste sie von mir geweckt werden.
„Och, nein. Das ganze Stockwerk?“, hörte ich Schwester Sabine fragen. Ich konnte beten, dass Herbert nicht vergessen würde, welche Methoden er bereits ausprobiert hatte, um die Nachtschicht in Schach zu halten. Sonst würde auch Schwester Sabine irgendwann Verdacht schöpfen.
„Also gut. Ich komme.“ Sie legte den Hörer auf und ich wusste, dass alles nach Plan laufen würde.
Ich schlich zurück an Henriettes Bett und rüttelte meine Zimmernachbarin wach. „Jetzt komm schon! It’s Christmas Time.“ Sie verstand sofort.

Unser Bewohnerrat hatte durchsetzen können, dass der Kellerbereich ganz uns gehörte. Anfang Dezember trafen wir uns hier zur Krisensitzung. Wir brauchten ordentlich Vorlaufzeit um das Personal für eine Weile beschäftigt zu bekommen. Aber wie beinahe jedes Jahr setzten wir all unsere Hoffnungen auf Horst. Er hatte noch lebende und willige Verwandtschaft, die ihn an Weihnachten zu Hause haben wollte. Er war somit für die Beute zuständig. Als Henriette und ich nach unten kamen, war bereits alles, was ein oder ein halbes Bein zur Verfügung hatte, im Partyraum versammelt. Gespannt warteten wir auf vermeidlichen Held des Abends.
„Wo bleibt er denn?“, murrten die Ungeduldigen.
Doch da flog die Tür ein letztes Mal auf. Horst kam in seiner Weihnachtsmannjacke herein gestolpert. Er hatte einen Sack über den Rücken geschwungen.
„Alles für die Stimmung“, hatte er mir eines Tages erklärt, als ich ihn fragte, warum er auf dieses grausige Outfit bestand.
„Die Beute hat ihr Ziel erreicht“, verkündete er zufrieden und breitete das Ergebnis aus. Unsere Augen begannen zu leuchten.

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