21. Türchen: Gerdas Weihnachtsgeschenk

Bild von: Emma Zecka

Langsam machte ich mich auf den Heimweg. Heute war wieder mein wöchentlicher Besuch bei Tess angefallen. Wir beide hatten das große Feuer überlebt. Allerdings war ich in deutlich besserer Verfassung als meine ehemalige Freundin. Jedoch schaffte ich es einfach nicht, sie hängen zu lassen. Immerhin war es für uns beide damals nicht einfach gewesen und im Gegensatz zu mir war sie jetzt ganz alleine. Da packte mich doch etwas das Mitleid.

Der Medienrummel war riesig. So mussten wir nicht nur mit unseren körperlichen und psychischen Schäden klar kommen, sondern uns auch noch mit der breiten Öffentlichkeit auseinandersetzen. Mich hatte es stärker gemacht. Tess hingegen… Nun ja… Das war wohl ein Fall für sich.

Ich gähnte. Die Besuche bei Tess waren ermüdend. Ich wusste, dass ich langsam damit aufhören musste, sie zu sehen. Wir taten uns beide nicht gut. Gerda bemerkte es ebenfalls. „Du siehst so verzweifelt aus, wenn du von ihr zurückkommst. Ihr kann es doch kein Haar besser gehen“, tadelte sie mich dann jedes Mal. Ich schmunzelte. Dieser Frau hatte ich mein neues Leben zu verdanken. Während meine Herkunftsfamilie aus guten Gründen wegezogen war, hatte Gerda keine Sekunde gezögert, mich bei sich aufzunehmen. Nun lebte ich fast ein Jahr bei ihr.

„Ich bin wieder da!“, rief ich und betrat den schmalen Hausflur. Im Wohnzimmer brannte Licht. Ich blieb irritiert stehen. Normalerweise ließ Gerda das Licht im Wohnzimmer nicht einfach brennen, wenn sie nicht zu Hause war. Sie gehörte zu einer sparsamen Generation. Zudem kam sie mir sofort entgegen, wenn sie hörte, dass ich nach Hause kam. Obwohl sie der Meinung war, dass Tess und ich Abstand voneinander gewinnen sollten, gehörte sie doch zur neugierigen Natur und interessierte sich für die neusten Geschichten. Ich lauschte. Es waren weder Radio noch irgendwelche anderen Nebengeräusche zu hören. Also konnte ich einen Einbrecher schon mal ausschließen. Außerdem wäre der sicher nicht so blöd gewesen, das Licht im Wohnzimmer anzuschalten, oder sich häuslich einzurichten, indem er Musik hörte. Vorsichtig näherte ich mich dem erleuchteten Raum und staunte nicht schlecht.

Auf dem Wohnzimmertisch waren zwei Weingläser und eine mir allzu bekannte Flasche platziert. Ich lächelte. Obwohl ich den Keller neulich ausgemistet hatte, war mir die Flasche gar nicht aufgefallen. Gerda hatte sie auch nie wieder zur Sprache gebracht und ich vermied es, so gut es ging den besagten Abend zu thematisieren. Wahrscheinlich war das ihre Art von Weihnachtsgeschenk. Der Gegenstand, der uns wieder zusammengebracht hatte, sollte nun endlich geöffnet werden. Ich nahm Platz und wurde von Erinnerungen überrannt.

Dieser Abend war nicht nur mir, Tess oder Gerda gewidmet. Natürlich hatte ich die Minuten mit Tess geteilt, die unser ganzes Leben veränderten. Auch Gerda war ich an diesem Abend, wenn auch indirekt, begegnet. Vor meinem geistigen Auge tauchte aber eine andere Gestalt auf. Ich befand mich plötzlich wieder an der Bushaltestelle. Mir gegenüber stand ein Mädchen, in dessen Blick abgrundtiefe Liebe zu finden war.

Schmerzlich wurde mir bewusst, dass mir diese Flasche eigentlich gar nicht gehörte. Es war nicht mein Recht, sie gemeinsam mit Gerda zu genießen. Sie sollte zurück zu der Person, die sie mir voller Liebe geschenkt hatte. Obwohl sie mit Sicherheit wusste, dass ich das Feuer überlebt hatte, wollte sie wohl nichts mehr von mir wissen. Verübeln konnte ich ihr das nicht. Immerhin war mein Brief wohl ziemlich eindeutig. Wahrscheinlich fühlte sie sich in ihrer Ehre verletzt und mit Füßen getreten. Mir wurde klar, dass ich es womöglich nicht mehr gutmachen, ihr aber zeigen konnte, dass ich weiterhin an sie dachte.

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4 Gedanken zu „21. Türchen: Gerdas Weihnachtsgeschenk“

  1. Hey!
    Ich finde diese Person erneut gelungen. Er liest sich wieder sehr authentisch und rund. Und so langsam bin ich gespannt, wie das mit der Flasche enden soll 😀

    LG

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  2. Es freut mich zu lesen, dass dir das Türchen gefällt. Und ich muss sagen gerade bei den letzten Türchen habe ich ein "Denkproblem" gehabt, dass mich kurzzeitig in eine "Schreib / Denkblockade" gestürzt hat.
    Aber: Es gibt ein Ende! Und bald wirst du erfahren, welches 🙂

    viele Grüße
    Emma

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  3. Wow! Ich stimme meinem anonymen Vorschreiber absolut zu!
    Der Typ ist cool und ich finde auch, dass sein neues Leben die Sache jetzt irgendwie rund macht.
    Nicht wie bei den anderen, bei denen man denkt "Waaaas? Das ist ist doch kacke!?".
    Ich bin gespannt auf das Mädel.
    Aber die arme gerda. Jetzt kommen sie gar nicht zu ihrem Wein, was für mich wider ein neuer Konflikt ist.
    LG

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