3. Advent: Vor 65 Jahren (1954)

Ein Kranz in dessen Mitte eine 3 steht.»Seid ihr so weit?« Karl Gustav Advent stand mit seinen beiden Brüdern vor der Haustür der großen Villa.
Das Haus war verlassen. Die Brüder warteten immer, bis die Familien außer Haus waren. Schließlich wollten sie nur Geld, aber keine Gewalt anwenden müssen.
Karl Gustav war mit seinen fünfzehn Jahren der Älteste und Kräftigste unter ihnen. Er wusste genau, was er wollte.
»Und wenn wir erwischt werden?«, fragte einer seiner Begleiter leise.
»Horst, wie oft sind wir schon eingebrochen?«, fragte Karl Gustav mit ruhiger Stimme.

Horst blickte zu Boden und murmelte: »Das ist unser zehnter Einbruch diese Woche.« Es war bereits Mitte Dezember. Ihre Serie hatte Anfang des Monats begonnen.
»Genau. Und wie oft haben sie uns schon erwischt?« Warum müssen sie immer  so ängstlich sein? Bisher läuft doch alles nach Plan, dachte Karl Gustav ungeduldig. Sie hatten mit ihrer Einbruchserie in den Nachbardörfern begonnen und arbeiteten sich langsam zu ihrem Wohnort vor.

»Kein Mal«, murmelten beide Brüder im Chor.
»Da seht ihr’s! Außerdem machen wir das Ganze ja für eine gute Sache. Wir borgen uns was von den Reichen aus und geben es den Armen. Schaut euch mal dieses Haus an. Da ist so viel Platz. Denen wird gar nicht auffallen, dass etwas fehlt.«
Seine Brüder nickten zögernd und setzten dann die mitgebrachten Rucksäcke ab, um das Material herauszuholen, mit dem sie das Haustürschloss öffnen wollten. Einer von ihnen griff nach der Zange,  während der andere die Büroklammern aus seiner Jackentasche zog.
Doch Karl Gustav musste erst einmal einer schrägen Angewohnheit nachgehen. Er ging zur Haustür und drückte die Klinke herunter. Woher er diesen merkwürdigen Tick hatte, konnte er sich nicht erklären. Bei einem verlassenen Haus war es schließlich logisch, dass die Haustür verschlossen war. Oder?
Doch als er die Klinke so herunterdrückte, zuckte er mit einem Mal zurück. Die Tür gab nach. Sie haben vergessen, abzuschließen, dachte er und war sich nicht sicher, ob er sich darüber freuen, oder dem Ganzen eher misstrauisch gegenüberstehen sollte. Hatten sie keine Alarmanlage?, fragte er sich im selben Moment. Vielleicht ist doch jemand daheim, machte sich eine böse Vermutung in ihm breit. Karl Gustav holte tief Luft und beschloss die Zweifel, die in seinem Kopf hin und her schwirrten, gekonnt zu überhören.
»Sie sind zu Hause!«, flüsterte Horst.
»Ach, was! Seht ihr ein Auto in der Einfahrt?«, zischte Karl Gustav.
Die Brüder schüttelten die Köpfe.
»Packt das Zeug wieder ein und holt die Taschenlampen raus«, meinte Karl Gustav. Die Brüder gehorchten und alle drei betraten mit leisen Schritten den Eingangsbereich der Villa.

Zur selben Zeit im Obergeschoss

»Sie sind drin.« Schmitt lächelte zufrieden, obwohl sein Kollege das im Dunkeln natürlich nicht erkennen konnte.
Zum Glück hatte die Familie mitgespielt und sich für einen abendlichen Ausflug in einer benachbarten Stadt entschieden. So hatten die Jungen geglaubt, in Ruhe einbrechen zu können. Was denken die sich nur dabei?, fragte sich Schmitt.
»Die sind schon etwas dämlich«, zischte sein Kollege.
Schmitt nickte. Wer brach schon in ein Haus ein, wenn die Haustür bereits offen stand?

Im Erdgeschoss

Die Brüder leuchteten den Raum genau ab.
»Hier gibt es doch gar nichts«, meinte Horst.
»Sie servieren uns die Schätze schon nicht auf dem Silbertablett. Ein bisschen suchen müssen wir schon«, erklärte Karl Gustav.
Heute ist mein großer Tag, dachte er. So ein großes Haus hatten sie sich bisher nie ausgesucht.
Mit dem Gewinn können wir sicher noch weiteren Familien helfen, dachte Karl Gustav zufrieden. Die ersten Gelder waren bereits an Menschen weitergegeben worden, die es verdient hatten und gewiss nötiger brauchten, als die ursprünglichen Besitzer.
Sie hatten das Geld oder den gestohlenen Schmuck in Briefumschläge gesteckt und den neuen Besitzern entweder vor die Haustür, oder in den Briefkasten gelegt. Karl Gustav wusste, dass er es nicht riskieren konnte, die Geschenke persönlich zu übergeben. Fast wie Robin Hood, dachte er zufrieden.
Seit er den Film im November gesehen hatte, ließ ihn die Geschichte des Helden nicht mehr los.
Karl Gustavs Familie gehörte zwar zum Mittelstand, aber dennoch konnte er es kaum ertragen, dass es Menschen gab, die ihr Geld zum Fenster herauswarfen, während Andere von einem besseren Leben träumten, das ihnen wohl immer verwehrt bleiben würde. Robin Hood hatte ihm nur den richtigen Anstoß gegeben, etwas gegen dieses Ungleichgewicht tun zu können.
»Los, kommt mit in den ersten Stock!«, zischte er und ging als Erster die Treppe nach oben.

Im ersten Stock: Am Ende des Flures

»Sie kommen!« Das Flüstern war kaum merklich. Der Flur war zwar lang und zwischen ihnen und den Jungen lagen mindestens fünf Zimmer, aber dennoch wussten sie genau: Wenn die Jungs jetzt etwas hörten, waren sie weg und die Mission wäre gescheitert.
Schmitt nickte nur. Es war keine Zeit mehr, um weitere Fragen zu stellen. Sie mussten nur noch hoffen. Und zwar darauf, dass die Jungs erst einmal die Schränke mit den Pokalen und Medaillen entdeckten.
»Alle auf Position«, zischte Schmitt und platzierte sich selbst neben dem Lichtschalter.

Die Advents

»Schaut euch das mal an!« Horst hatte ein Regal gefunden, in dem einige Pokale und Medaillen präsentiert wurden.
»Das ist genial. Wenn wir die schmelzen und zu Münzen umformen lassen, dann können wir sicher vielen Leuten helfen«, meinte Karl Gustav hoffnungsvoll. Er öffnete seinen Rucksack und begann damit, einen Pokal nach dem anderen in seiner Tasche verschwinden zu lassen.

Seine Brüder kümmerten sich um die Medaillen, wurden aber immer wieder abgelenkt, weil sie die Gravuren lesen wollten.
Es waren Preise von Schwimmwettkämpfen. Entweder stammten die Titel hier aus der Region oder sogar aus anderen Städten. Karl Gustav war schwer beeindruckt.

Nach minutenlangem Staunen und Packen war das Regal schließlich leer geräumt.
»Gut, lasst uns gehen«, meinte Karl Gustav. Der erste Teil der Arbeit war schließlich getan.
»Nicht so schnell!«, rief eine laute, tiefe Stimme. Karl Gustav zuckte zusammen. Seine Brüder schrien.
Doch bevor sie sich rühren konnten, wurde das Deckenlicht angemacht und Karl Gustav stellte mit Entsetzen fest, dass sie von Polizisten umgeben waren.

»Du hast gesagt, wir werden nicht erwischt!«, rief Horst wütend.
»Da hat sich dein Bruder wohl getäuscht!«, erklärte einer der Männer, der einen langen Mantel mit Hut trug, während die anderen Polizisten in Uniform vor ihnen standen.
»Bringen wir sie aufs Revier. Aber bitte ohne Tamtam. Die Mission soll schließlich geheim bleiben.«

Auf dem Revier

»Gut, Jungs. Würdet ihr uns bitte erklären was das soll? Ihr seid mindestens in fünfzig Haushalte eingebrochen. Und das innerhalb von drei Wochen!« Der Polizist mit Hut hatte sich als Kommissar Schmitt vorgestellt.
Karl Gustav und seine Brüder saßen inzwischen in einem Vernehmungsraum. Ihnen gegenüber der Kommissar.
Die jüngeren Brüder blickten hilfesuchend zu Karl Gustav. Doch der wusste selbst nicht so genau, was er antworten sollte.
»Wisst ihr, wie wir euch auf die Schliche gekommen sind?«, fragte Schmitt weiter.
Die Jungen schwiegen.

Das soll wohl eine rhetorische Frage sein, dachte Karl Gustav mürrisch. Die Rucksäcke waren beschlagnahmt worden. Der Inhalt wanderte gerade wieder in die Villa zurück.
»Uns wurden Schmuck und Geld vorbeigebracht.« Wie zum Beweis hielt der Kommissar eine Plastiktüte hoch, in der Ketten, Ringe und Ohrringe lagen.
»Sie hätten das Zeug behalten sollen!«, entfuhr es Karl Gustav. Ich dachte, wir machen ihnen eine Freude, fügte er in Gedanken hinzu.
»Die Menschen hatten Angst, dass sie mit einem Verbrechen in Verbindung gebracht werden könnten, dass sie nicht begangen haben«, meinte Schmitt ruhig.
»Das war doch kein Verbrechen! Wir haben uns nur etwas von Menschen ausgeborgt, dass sie sowieso nicht brauchen«, rief Karl Gustav.
»Moment mal! Woher willst du das überhaupt wissen?«, konterte Schmitt.
»Na, die Reichen leben in Saus und Braus. Sie haben mehr als genug Geld. Da fällt es ihnen doch gar nicht auf, wenn ein bisschen davon fehlt. Und den Schmuck können sie doch jederzeit nachkaufen«, meinte Karl Gustav kleinlaut.
»Junge, das sind Erbstücke! Die gibt es nicht zu kaufen. Die werden von Generation zu Generation weitergegeben.« Schmitt seufzte und stand auf.
»Kommen wir jetzt ins Gefängnis?«, fragte Horst ängstlich.
»Das kommt ganz darauf an«, meinte Schmitt und verließ den Raum.

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6 Gedanken zu „3. Advent: Vor 65 Jahren (1954)“

  1. Als Karl Gustav Advent seinen Namen patentieren und die Rechte an den Weihnachtsmann abtrat wusste dieser, dass die Zeit vor Weihnachten unbedingt nach Karl Gustav benannt werden sollte.

    Weshalb?

    Nun, 1954 begann Karl Gustav das sogenannte "4 wöchige Klinkenputzen",
    Englisch: The Four-Week-Door-Challenge.
    Weil, wenn Weihnachten vor der Türe steht, muss ja einer nachschauen ob die Tür vielleicht doch offen ist? Karl Gustav Advent hat diese Aufgabe zugesprochen bekommen. Dass er hin und wieder etwas mitgehen ließ, sorgte für das Ritual der 4 Kerzen. Die Menschen zünden abends Kerzen
    an um Karl Gustav ihr Zuhausesein vorzutäuschen. Sie wissen, der Spuk hört erst auf
    wenn der Weihnachtsmann kommt, deshalb ja die Erleichterung zu Weihnachten – alle können aufatmen.

    Jetzt aber, 1954, hat uns die Polizei einen Strich – einen richtig fetten Strich – durch die Rechnung gemacht. Advent kann seinen Job nicht mehr ausführen. Was soll nur aus Weihnachten werden?

    Da kann man nur wünschen: "Schöne Adventszeit!"

    Die Grafikerin

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  2. Wer braucht denn schon die Ice Bucker Challenge wenn er auch die "The Four-Week-Door-Challenge" haben kann? Immerhin tut man da was für die Umwelt und sorgt für Ordnung.

    Soweit ich weiß, wird es mit dem Karl Gustav, dem Horst (und dem stummen, namenlosen Bruder, den ich aber nicht rausschreiben wollte) ein gutes Ende nehmen. Hoffe ich jedenfalls. Wenn ihnen das Putzmittel in der Vorweihnachtszeit ausgegangen ist, können sie die Challenge wohl nicht mehr erfüllen…

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  3. Langsam, Mister Bomber, du musst ja den Fall nicht lösen.
    Kommissar Smith hat mich gebeten zu kommen, wir beraten uns im Hintergrund.

    Wir haben also einen Adventskalendertraum, ein ominöses Adventsnotizbuch, und die Einbruchserie vor 65 Jahren. Es kann ja sein, dass jemandem was in die Schuhe geschoben wird. Ich denke der Ich-Erzähler und Simon scheiden aus, schließlich können sie nicht für etwas belangt werden, vor ihrer Geburt.
    Ich muss mir das nochmal durch den Kopf gehen lassen ..
    .. ach, ich hab noch eine Frage, Mähäm, wann macht morgen der Glühweinstand auf ?

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  4. Aber wenn er unüberlegt den Ball rein haut, ist das Fenster ja kaputt und die Villa kann betreten werden. Und bis auf die Scherben werden keine Spuren hinterlassen. (Der Ball muss nur wieder mitgenommen werden, damit keine DNA Spuren – geht das überhaupt? von Schuh zu Ball? – festgelegt werden müssen). Und spielte die Geschichte in der Gegenwart hätten die Kölner sicher ein Auge drauf.
    Videobeweis und so…
    Ärgerlich.

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