Ge(h)dacht – Den falschen Beruf gewählt?

Foto: A. Mack

Auch ich habe mir die Ausgabe Behinderteneinrichtungen von Team Wallraff – Reporter Undercover angeschaut und war ziemlich entsetzt über die Zustände, die in der Sendung aufgedeckt wurden. Während man in den Social Media Kanälen die Mitarbeiter oder das Konzept von Behinderteneinrichtungen verurteilt oder sich von den schlechten Institutionen abgrenzt, möchte ich versuchen mit diesem Beitrag eine etwas andere Sicht auf die Dinge zu vermitteln.

Vorweg: Natürlich halte ich nichts davon, Menschen zu misshandeln oder zu beleidigen. Dennoch bin ich der – vielleicht für den ein oder anderen auch naiven – Meinung, dass nichts ohne Grund passiert.
Die Ausgangssituation – Berichte in der Sendung 
In der Sendung wurden Reporter in Wohnheime sowie Werkstätten für Menschen mit Behinderung als Praktikanten getarnt, eingeschleust. Hier wurde nicht nur deutlich, dass das Personal, trotz guter personeller Besetzung und somit ausreichend Zeit für die Bewohner, desinteressiert war. Es kamen auch Szenen ans Licht, in denen die Bewohner misshandelt wurden. Hätte man mir von diesen Szenen erzählt, hätte ich wahrscheinlich mit dem Kopf geschüttelt und mich gefragt, ob mein Gegenüber nicht einfach etwas übertreibe.
Bewohner wurden mit Gewalt auf den Boden gedrückt oder im dunkeln Zimmer zurückgelassen. Sanktionen, die völlig unbegründet stattfanden.
Zudem verbrachten viele Mitarbeiter mehr Zeit im Büro oder im Garten als mit den Bewohnern.
Daher stellt sich mir die Frage: Warum?
Den falschen Beruf gewählt? 
Ich habe den vielleicht naiven humanistischen Gedanken, das kein Mensch von Grund auf böse ist. Er steht nicht eines Morgens auf und denkt sich: “Ich suche mir jetzt einen Beruf, in dem ich möglichst viele Menschen quäle.”
Dennoch stellt sich die Frage: Wie kommt es zu solchen Zuständen?
Fehlende Kompetenzen – Fachwissen über die Erkrankungen 
In einem Wohnheim wurde ein Bewohner aufgrund seiner Spastik für Dinge sanktioniert, die er aufgrund seiner Behinderung nicht bewerkstelligen konnte. Wie beispielsweise ein Glas Wasser zum Mund führen, oder selbstständig auf die Toilette gehen. Der Bewohner verschüttete Wasser oder nässte ein. Die Mitarbeiter unterstellten ihm Absicht und Böswilligkeit. Und wie versucht man das Verhalten zu unterbinden? Man bestraft ihn. An sich eine logische Schlussfolgerung. Allerdings besteht das Grundproblem hier ja schon darin, dass der Bewohner das gewünschte Verhalten überhaupt nicht zeigen kann und somit auch nichts an seiner Situation ändern können wird.
An sich gehört es zu der Grundausbildung von Heilerziehungspflegern sich nicht nur in pädagogischen sondern auch medizinischen Aspekten auszukennen (Quelle). Da stellt sich mir die Frage, welche Qualifikation die Mitarbeiter in dieser Einrichtung überhaupt hatten. Haben sie das Wissen über die Jahre einfach wieder vergessen oder können sie es aufgrund ihrer Ausbildung und nicht angebotenen Weiterbildungen einfach nicht wissen?
Empathie und Interesse am Gegenüber 
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass man diesen Punkt nicht lernen kann. Entweder die Mitarbeiter bringen ein Interesse für ihr Klientel mit oder sie verbringen die Zeit im Garten oder Büro. Für motivierte Mitarbeiter, die in ein unmotiviertes Team kommen, wird es wahrscheinlich schwierig sein, die eigene Motivation auf Dauer aufrechtzuerhalten. An sich müsste man ja davon ausgehen, dass Menschen, die sich für einen Beruf im sozialen Bereich entscheiden, Empathie mitbringen. Leider ist das nicht immer so.
Die Ausbildungsstätten 
Verwandte von mir arbeiten bzw. haben früher in der Pflege gearbeitet. In meinem Bekanntenkreis finden sich daher Leute wieder, die in Krankenpflegeschulen unterrichten. Wie in vielen Einrichtungen, müssen auch Krankenpflegeschulen mit Schülern gefüllt werden. Wenn es zu wenig Schüler gibt, muss eine Schule – wer hätte das gedacht – geschlossen werden. In der Praxis heißt das, dass viele Schüler durch die Ausbildung geschleppt werden, obwohl sie vielleicht in einem anderen Beruf besser aufgehoben wären.
Behinderteneinrichtungen schließen? 
Nach einer Sendung wie Team Wallraff fühlen sich Aktivisten, die sich schon seit Jahren für Inklusion einsetzen, berechtigterweise wieder bestätigt. Aufklärung führt offenbar zu nichts. Die Einrichtungen müssen geschlossen werden!
Schließlich hat die Reportage genau das gezeigt, was man sich nicht von einer Einrichtung wünscht. Dennoch bin ich selbst nach der Reportage kein radikaler Gegner von Behindertenwerkstätten oder Wohnheimen. Warum? Das zeigt vielleicht das folgende Beispiel:
Hotelfach – Servicefachkraft und die Frage nach der passenden Arbeit 
Meine Bekannte A. ist sehbehindert und hat eine leichte Entwicklungsverzögerung. Sie besuchte die Förderschule, bekam im letzten Förderschuljahr aber die Möglichkeit den Hauptschulabschluss zu erwerben.
Ihr wurde eine Ausbildung zur Hotelfachfrau empfohlen. Einem Beruf in dem es um Schnelligkeit und viel visuelle Wahrnehmung geht. Sie bekam einen Ausbildungsplatz in einem Hotel, in dem sie schnell an ihre Grenzen stieß. Das vorgegebene Arbeitstempo überforderte sie. Sie benötigte mehr Zeit zur Bewältigung der Aufgaben bzw. konnte einige Sachen visuell nicht beurteilen. Sieht das Bett jetzt wirklich schön aus? Ist der Badezimmerspiegel auch sauber?
Die Mitarbeiter waren somit nicht nur damit beschäftigt, ihren eigenen Aufgabenbereich zu erledigen, sondern auch noch zu schauen ob A. die aufgetragenen Aufgaben zuverlässig erledigte. A. nahm also keine Arbeit ab, sondern machte einen Mehraufwand. Natürlich lassen das Mitarbeiter nicht lange mit sich machen. Sie begannen A. zu mobben. Hinzu kam auch, dass A. eigentlich alle Abteilungen im Hotel durchlaufen solle. In der Küche wolle man sie aber nicht einteilen. Daher musste sie sich einen Praktikumsplatz suchen, der zur ihrer Rettung werden sollte. Sie fand eine Kur- und Rehabilitationsklinik mit einem sehr motivierten Service-Team. Ihre Ausbildung wurde von der Hotelfachfrau zur Service Fachkraft umgewandelt und A. konnte dank einer sehr engagierten Ausbilderin ihre Ausbildung in der Rehaklinik beenden. Doch übernehmen konnte man A. nicht. Jetzt ist A. seit letztem Jahr ausgebildete Service Fachkraft, bewirbt sich und hat sich bereits in verschiedenen Cafes vorgestellt. Ohne Erfolg.
Für A. wäre ein Betrieb wie die Rehaklinik geeignet. Hier ging es darum, das Essen vorzubereiten und zu servieren, sowie nach den Mahlzeiten abzuräumen und die Küche in den Urzustand zu versetzen. Alles Arbeitsschritte, die man erlernen könne. Bestellen nach Karte, oder Stress wegen einem Berg an Kundschaft gab es hier nicht. Dennoch gab es keine Option A. zu übernehmen.
A. ist momentan gezwungen sich überall zu bewerben. Normale Gaststätten sowie Cafes überfordern sie aber. Jetzt stellt sich mir die Frage: Wo könnte man A. unterbringen?
Beispielsweise könnte ich sie mir ebenfalls sehr gut in einem Integrationsbetrieb vorstellen. Einem Betrieb, der sowohl Menschen mit Behinderung als auch nicht behinderte Mitarbeiter beschäftigt. Aber auch hier muss auf ein Gleichgewicht der Mitarbeiter geachtet werden. Deswegen ist es nicht immer leicht, in so einem Betrieb unterzukommen.
Natürlich könnte ein Argument für A. sein, eine Arbeitsassistenz zu beantragen. Arbeitsassistenzen unterstützen in den Bereichen, die der Betroffene aufgrund seiner Behinderung nicht oder nur zum Teil ausführen kann. Doch wie solle das bei A. aussehen? Sie bringt ja nicht nur eine Sehbehinderung mit. Da ist ja auch noch die Sache mit der Entwicklungsverzögerung. Ich befürchte, dass hier schnell die Gefahr bestünde, dass die Arbeitsassistenz zu A’s. Konditionen arbeitet.
Die Sache mit der Wirtschaft 
Ich glaube, das Grundproblem sind nicht die Behinderteneinrichtungen, sondern die Tatsache, wie das Außen gestaltet ist. In unserer Gesellschaft kann nun mal derjenige punkten, der leistungsfähig ist. Höher, schneller weiter. Wer da auf Dauer nicht mithalten kann, fällt halt raus. Super finde ich das keinesfalls. Aber ich sehe momentan auch nicht, wie sich das in den nächsten Jahren ändern soll. Entweder wir passen uns an oder wir suchen uns die Nischen unserer Branche.
Werkstätten für Menschen mit psychischer Erkrankung 
In der Reportage von Team Wallraff wurde auch kurz auf Werkstätten für Menschen mit psychischen Erkrankungen eingegangen. Hier wurde bemängelt, dass es sich oft um eintönige Arbeit handle. Natürlich ist es nicht Sinn und Zweck dafür zu sorgen, dass Menschen der gähnenden Langeweile unterliegen.
Aber auch hier kenne ich ein anderes Beispiel: Ich arbeite ehrenamtlich in einem Verein, der unter anderem einen Arbeitsbereich für Menschen mit psychischer Erkrankung anbietet. Aufgabe des angestellten Arbeitserziehers ist es nicht nur, sich um Aufträge zu kümmern, sondern auch dafür zu sorgen, dass die Klienten motiviert dabei bleiben. Je nach Krankheitsbild kann das natürlich variieren. Eine Zeit lang lief es im Arbeitsbereich sehr schlecht. Es gab wenig Aufträge, weswegen auch weniger Mitarbeiter benötigt wurden. Für die Klienten war es eine schwierige Zeit, weil ein Punkt der Tagesstruktur weggefallen ist. Alle wünschten sich eine bessere Auftragslage und waren froh, als es wieder etwas zu tun gab.
Und jetzt? – Fazit? 
Oje, wie komme ich jetzt zu einem guten Ende? Gibt es das überhaupt?
Ich bin keinesfalls dafür, dass Menschen mit Behinderungen abgeschoben und fernab von der Gesellschaft irgendwo untergebracht werden. Dennoch frage ich mich auch, wie Behinderte und Arbeitsmarkt funktionieren soll, ohne, dass der Arbeitgeber oder der Mensch mit Behinderung Abstriche machen muss. Dass es oft an Aufklärung oder Mut scheitert, einen Behinderten einzustellen, steht außer Frage.
Was mich an der Sendung von Team Wallraff störte war, dass viele Einrichtungen jetzt wieder über einen Kamm geschert werden aber sich am Gesamtbild erstmal doch nichts ändert. Die Wirtschaft stellt jetzt nicht unbedingt mehr Behinderte ein und auch die Träger der Behinderteneinrichtungen werden nur mit Glück etwas an ihrer Arbeit ändern.
Ich bin mir sicher, dass es da draußen auch jede Menge Einrichtungen gibt, in denen Mitarbeiter und Klienten gut miteinander klar kommen.
Was ich mir wünsche? 
Das Menschen in den sozialen Bereich gehen, die Lust auf die Arbeit mit Menschen haben. Ich denke, das ist der wichtigste Punkt.
Und Du? 
Hast Du die Reportage von Team Wallraff gesehen?
Oder arbeitest Du vielleicht selbst in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderungen?
Was denkst Du über die im Artikel angesprochenen Themen?

2 Gedanken zu „Ge(h)dacht – Den falschen Beruf gewählt?“

  1. Ich habe ein teil von der Sendung gesehn, ich arbeite selber i der Pflege und weiss das da viel Faktoren zusammen kommen , bis es so eskaliert. Meistens wird am Personal gespart, weil das der teuerste Faktor ist, und es werden eher Helfer als Fachpersonal eingestellt, wenn die dann noch viel arbeiten ist die Belastungsgrenze erreicht.

    Wobei solche Sendungen auch auf Krawall aus sind.

    Das Problem ist, wenn man sich Hilfe sucht rennt man gegen Wände, erst wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist , kommen alle.
    lg carlinda

    Antworten
  2. Hallo Carlinda,
    vielen Dank für deinen Kommentar.
    Leider ist es tatsächlich so, dass es in der Pflege mittlerweile viele unausgebildete Leute gibt. Beispielsweise kenne ich ein paar Leute aus meinem Studiengang (ich studiere Soziale Arbeit) die Nebenjobmäßig in Behinderteneinrichtungen arbeiten. Ich will nicht sagen, dass es unter Helfern keine zuverlässigen und kompetenten Leute gibt. Dennoch finde ich es sehr wichtig, dass man mit einem Grundwissen an seine Arbeit rangeht und gut eingelernt wird.

    viele Grüße
    Emma

    Antworten

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