Türchen 8: Olli

Ein Kranz in dessen Mitte eine 8 steht.Lieber Olli,

ich danke Dir für all die technische Hilfe, die Du bei mir als hoffnungslosen Fall bereits geleistet hast. Es hat sich wirklich gelohnt. Ohne Dich hätte ich meinen Plan nämlich nicht in die Tat umsetzen können.

Bisher hat jeder der Personen, denen ich ein zweites Mal geschrieben habe, einen Tipp oder ein Geschenk bekommen, das ihnen helfen wird, mich zu finden.

Ich habe wirklich lange überlegt, was ich Dir mit auf den Weg geben möchte und bin zu dem Entschluss gekommen, dass es zwei Dinge sein sollen:

Nummer 1: Olli, geh raus! Zeige Dich der Welt und lass die Technik einmal links liegen. Diese netten kleinen Spielereien können einem auch ein sehr einsames Leben bescheren. Und ich will nicht, dass Du irgendwann vergisst, wie es in der Realität aussieht.

Nummer 2 folgt in Kürze.

Bis bald,

Marlene

Achter Dezember:

Ich starrte auf Marlenes Zeilen. Eine Drohne hatte mir die Botschaft überbracht. Die Worte waren auf Papier geschrieben worden. Mit der Hand.
Dabei hatte ich Marlene doch gezeigt, wie man E-Mails mit der neuen Technik verschickte. Und immerhin hatte sie mit ihrer ersten Nachricht im November bereits bewiesen, dass sie verstand, wie das Ganze funktionierte.
»Wie lautet Ihre Antwort?«

Ich zuckte zusammen, als die Drohne das Wort an mich richtete. Normalerweise wurde ich von niemandem gesiezt. Unschlüssig überlegte ich, wie ich darauf reagieren sollte.
Olli, reiß dich zusammen. Es ist nur Technik … Aber lustig ist es schon irgendwie. Wann trifft man schon mal eine Drohne in Rittergestalt? Okay, gut, ich weiß ja, dass es eine Miniaturausgabe ist.

»Verehrter Ritter…« Ich stockte. Aus irgendeinem Grund beschloss Marlene, mir eine Drohne in Rittergestalt zu schicken.
Aber dieser Ritter sah nicht etwa so aus, wie die Exemplare, die in Geschichtsbüchern gefeiert wurden. Bei der Drohne handelte es sich um einen modernen Ritter. Diese trugen meist einen Motorradhelm und einen einfarbigen Umhang. Je nachdem, von welcher Firma der Ritter stammte, war noch das Logo des Unternehmens auf die Rückseite des Umhangs gedruckt.
Eines hatte der neue Ritter mit seinem Retromodell gemeinsam: Sie trugen beide Schwerter bei sich. Allerdings hatte der Ritter 2.0. eine Art Laserschwert bei sich, dass ihm im Winter vor allem als Taschenlampe diente.

Kritiker behaupteten, dass man damit auch Haustüren oder Fenster aufbrechen konnte, wenn die Empfänger nicht zu Hause waren. Die Pressesprecher der Ritterdrohnen Firmen beteuerten aber, dass diese Funktion erst freigeschaltet werden müsste, was die Kritiker nicht wirklich beruhigte.

Doch selbst die modernen Ritter waren inzwischen sowas von out. Aber vielleicht war genau dieser Ritter ja der zweite Hinweis?
»Ich höre!« Die Drohne zwinkerte mir zu.

Der Ritter war gerade mal so groß, wie eine Tasse, in der man 0,2 ml Flüssigkeit unterbringen konnte.
Aus der Scheide an seiner Rüstung hatte der Ritter nicht etwa ein Schwert, sondern Marlenes Nachricht gezogen. Eingerollt.
Die Frau war wirklich clever. Wenn jemand die Drohne abgefangen hätte, hätte er die Nachricht wahrscheinlich nie gefunden.
»Wann wird mich der zweite Hinweis erreichen?«, fragte ich schließlich.

»Marlene hat Sie nicht vergessen und wird sich in Kürze wieder mit Ihnen in Verbindung setzen. Bitte bleiben Sie ruhig und verfallen Sie nicht in Panik. Jede Lösung bietet ein neues Problem.«

Hä? Der Spruch geht doch anders, oder?
Da fing die Drohne plötzlich an zu piepen. Ich zuckte zusammen.
Eine dunkle Stimme, die aus den Tiefen der Drohne zu kommen schien, brüllte: »SYSTEMABSTURZ! Diese Drohne explodiert in 5 …«

Entgeistert starrte ich das Ding an. Bisher hatte ich nur von explodierenden Drohnen gelesen. Eigentlich vermutete ich, dass es sich dabei um ein Gerücht handelte.
Mit einer Mischung aus Faszination und Angst davor, was gleich passieren würde, blieb ich kerzengerade sitzen und bewegte mich nicht vom Fleck.

»SYSTEMABSTURZ!«, wiederholte die Drohne.
Dann begann sie damit, im Kreis zu fliegen. Zuerst langsam und dann Stück für Stück immer schneller. Der Durchmesser des Kreises wurde zunehmend größer.
Gleich fliegt sie gegen das Fenster!, dachte ich.

Ich erwachte aus meiner Starre, beugte mich über meinen Schreibtisch, streckte beide Hände von mir und versuchte die Drohne einzufangen.

Beinahe hätte ich das Gleichgewicht verloren. Dieses Ding war verflixt schnell. Ich brauchte ein paar Versuche, bis ich die Drohne fest in meinen Händen hielt.
Sport war noch nie meine Stärke gewesen. Der Ritter stellte die Flugbewegung ein und vibrierte in meinen Händen.
»Der Feind hat uns gefangen! Explosion in 2, 1…«
Mit einer Hand hielt ich die vibrierende Drohne, mit der anderen öffnete ich so schnell es eben ging, das Fenster und schleuderte das Gerät hinaus. Anstatt abzustürzen, bewegte sich die Drohne in schnellen, kreisenden Bewegungen von mir fort.
Mit großen Augen sah ich dem Schauspiel zu.
Keine Sekunde später wurde meine Zimmertür schwungvoll geöffnet.
»Ich sollte deine ganze technische Ausstattung für einen guten Zweck versteigern. Ich habe dich schon dreimal, ich wiederhole, dreimal gerufen. Du musst los, wenn du noch rechtzeitig zur ersten Stunde da sein möchtest, Junge!«

Als ich zu einer Antwort ansetzen wollte, rannte mir meine Mutter entgegen und schaute ebenfalls nach draußen.
»Was ist denn das für ein schräges Ding? Sag mir bitte nicht, dass du das gebaut hast!«

»Nein, keine Sorge. Ich entsorge meinen Müll ehrenhaft!«, erwiderte ich.
Die Drohne war nicht mein Eigentum. Daher galten hier andere Gesetze.
»Olli, wir müssen reden!« Chris rannte mich beinahe über den Haufen.

»Pass doch auf! Ich hab‘ wichtiges Material im Rucksack!« Obwohl meine Worte hart klangen, waren sie nicht so gemeint. Und das wusste Chris auch. Er war nun mal etwas … tollpatschig. Aber trotzdem mein bester Freund.
»Sorry!«, murmelte er und blickte schuldbewusst zu Boden.
»Ist ja nicht passiert. Was gibt’s Neues?«, fragte ich.

»Hast du auch Post von Lillys Oma bekommen?«, fragte er aufgeregt.
»Woher weißt du das?«, fragte ich erstaunt und merkte, dass ich mir die Frage eigentlich auch hätte sparen können.
In Marlenes erster E-Mail war deutlich, zu erkennen, dass die Nachricht an mehrere Personen gegangen war. Nur wen sie alles erreicht hatte, war von Marlene versteckt worden.
»Sie hat mir geschrieben, aber ich verstehe nicht, was sie von mir will!« Chris fasste den Inhalt seiner Nachricht und seinen Besuch in Marlenes Wohnung zusammen.

Da ertönte ein Gong. Der Boden unter unseren Füßen vibrierte ganz leicht und das Schultor färbte sich für fünf Sekunden dunkelblau. In unserer Schule schrieb man Barrierefreiheit groß.

Wie sollten unsere gehörlosen Mitschüler von dem Gong erfahren, wenn man ihn weder spüren noch visuell wahrnehmen konnte? Und was hatten Blinde davon, wenn das Schultor leuchtete, aber keiner der Mitschüler ihnen verriet, was los war?
»Bitte findet euch in euren Klassenräumen ein. Euer Unterricht beginnt in 15 Minuten. Wer nicht rechtzeitig auf seinem Platz anzutreffen ist, muss die verlorene Lernzeit in der Pause nachholen. Wir wünschen frohes Gelingen.« Die fröhliche, aber gleichzeitig auch fordernde Stimme unserer Schulleiterin klang einfach immer gleich.

Wenn diese Frau nicht ab und an durch die Gänge unserer Schule stolzieren würde, hätte ich den Glauben daran verloren, dass es sie wirklich gab. Unsere Aufsichtspersonen fluchten regelmäßig über sie: »Immer diese BWLer, Sie machen uns das Leben zur Hölle.«

Das elektronische Schultor öffnete sich und die Schüler strömten hinein. Wir bahnten uns einen Weg durch die Gruppen. Chris und ich wussten, dass genügend Schüler nicht scharf darauf waren, im Winter raus zu müssen. Also legten sie es darauf an, ihren Klassenraum später zu erreichen.

Chris und ich wussten aber auch, dass wir uns nur draußen auf dem Pausenhof ungestört unterhalten konnten. In den Schulklassen herrschte meistens Ruhe und Gesprächsverbot.
Richtige Lehrer wie unsere Großeltern sie noch kannten, gab es schon lange nicht mehr.
Das Bildungsministerium hatte sich eine sehr effektive und gleichzeitig auch schräge Taktik überlegt, den Lehrermangel irgendwie ein Ende zu setzen. Wir lernten hauptsächlich über eLearning Angebote.

Im Grunde bedeutete das, dass wir pausenlos auf einen alten »Schrank« starrten, Texte lesen und dazugehörige Aufgaben lösen mussten. Wer mit den Fachbüchern nicht zurechtkam, konnte sich Videos anschauen, in denen Lehrer die Inhalte erklärten.
Es gab zwar Interessenten, die Schülern gerne etwas erklärten, aber auf keinen Fall vor einer echten Klasse stehen und sich mit den typischen Problemen von Schülern herumschlagen wollten.

Sie hatten sich also auf das Videodrehen spezialisiert. Viele von ihnen machten das auch gar nicht mal so schlecht.

»Was sollen wir machen?«, fragte mich Chris, als wir mit einem Becher heißer Schokolade bewaffnet, auf dem halbleeren Pausenhof standen.
Mir fiel nur eine Möglichkeit ein. Und die gefiel mir ganz und gar nicht. Ich runzelte die Stirn und suchte fieberhaft nach einem anderen Ausweg.

»Olli, zeige dich der Welt«, kamen mir Marlenes Worte wieder in den Sinn.
Nein, das kann sie unmöglich gemeint haben. Sie wusste genau, wie unangenehm mir das wäre, überlegte ich in Gedanken.
»Vielleicht kann uns ja Lilly weiterhelfen!«
Ich stöhne auf. Manchmal wünschte ich mir, dass Chris eine deutlich längere Leitung hätte.
»Was ist?«, fragte er mich irritiert.
Ich schaute zu Boden.
»Sag bloß, du traust dich nicht sie zu fragen? Ihr redet doch auch miteinander, wenn ihr bei Marlene seid.« Er lächelte aufmunternd.

»Was? Ich? Nein! Ich hab‘ damit überhaupt kein Problem«, redete ich etwas zu schnell und vielleicht auch zu hoch drauf los.
»Das ist gut. Sogar sehr gut.« Chris marschierte in die Richtung der Mädchengruppen.
Lilly war zum Glück nicht Teil irgendeiner Gruppe, sondern stand an einer Wand gelehnt, den Blick auf ein Smartphone gerichtet. Wir kamen vor ihr zum Stehen.
Sie würdigte uns keines Blickes.
Ich hätte nicht gedacht, dass sie noch so ein altes Ding benutzte. Marlene hätte doch sicher genug Geld, ihr ein »Appgate« zu kaufen.
Chris räusperte sich und Lilly zuckte ganz leicht zusammen, blickte dann aber auf. Ihr Blick war in die Ferne gerichtet. So als steckte ein großer Teil ihrer Aufmerksamkeit in einer fremden Welt fest.
»Was wollt ihr denn?«, fragte sie leise.
»Wir müssen reden«, erwiderte ich und traute mich nicht ihr in die Augen zu schauen.
Es war schon peinlich genug, dass ich zugeben musste, keinen Plan zu haben, was ihre Oma von mir wollte. Bisher konnten sie sich immer auf mich verlassen. Immer.

Chris fasste seine Geschichte erneut zusammen. Dann erzählte ich den beiden von meiner Post heute Morgen. Die Sache mit dem explodierenden Ritter verschwieg ich lieber.
Lilly schwieg.
Dann fragte sie schließlich an Chris gewandt: »Und was war mit deinem zweiten Hinweis?«

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Übersicht zu den technischen Neuerungen im 22. Jahrhundert

5 Gedanken zu „Türchen 8: Olli“

  1. Guten Morgen Anja,

    vielen Dank für Deine lieben Worte.
    Das freut mich gerade sehr und lässt mich grinsend vor dem Bildschirm sitzen. Übrigens hatte ich gestern schon einen Titel für eine womögliche Halloween Geschichte :).

    viele Grüße und bis morgen

    Emma

    Antworten
  2. Is er jetzt explodiert oder nicht? 2…1…MEINS?

    Finde Jazzers Theorie höchst interessant.
    Gibt es noch andere? Die Geschichte könnte auch in einer Weihnachtskundgebung enden auf der Marlene sich für den Parteivorsitz der CSU aufstellen lässt! Im Anschluss wird dann die bayrische Weißwurst gehisst. Noch ist alles möglich, oder?

    Die Grafikerin

    Antworten
  3. Guten Morgen Grafikerin,

    die Fragen aller Fragen: Ging er nun in Flammen auf? Lass Deiner Fantasie freien Lauf, wie wir am Freitag gelernt haben.
    Auf eine Kundgebung könnte es möglicherweise vielleicht sogar hinaus laufen. Oder zumindest auf eine Rede. Wer weiß das schon. Speis und Trunk dürfen an Weihnachten natürlich nicht fehlen. Aber ich habe heute leider keine Bayrische Weißwurst für Dich.

    viele Grüße

    Emma

    Antworten

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