Türchen 22: Team Residenz

ein Kranz in dessen mitte eine 22 steht.23. Dezember: 15:00 Uhr

»Meinst du nicht, es wäre langsam wieder Zeit, zurückzufahren, Rudy?«, fragte ich meinen technischen Reisegefährten.
Ich hatte schon vor einer Weile auf dem äußerst bequemen Sitz Platz genommen. Er war aus Kunstleder geschaffen und enthielt auch eine eingebaute Heizung.

Die Technik hat manchmal schon was Gutes, dachte ich anerkennend.
»Rückzug wird angetreten. Bitte haben Sie etwas Geduld!«, bestätigte Rudy. Immerhin muss man mit diesem Ding nicht groß diskutieren.
Es wunderte mich, dass wir noch nicht im Schnee versanken. Ich konnte die tiefen Spuren erkennen, die Rudy zog, damit wir überhaupt durch den Wald kamen.

Glücklicherweise war ich hier in der Natur nicht mehr von merkwürdigen Stimmen umgeben.
»S-S-S-y…« Rudy brach mitten im Satz ab und begann damit, sich langsam im Kreis zu drehen. Was war denn da los?
Hoffentlich wird das nicht schneller!, dachte ich ängstlich. Ich war noch nie wirklich gut im Rodeo Reiten.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte ich besorgt. Bitte lass es nur eine kleine Störung sein!
»Absturz«, antwortete Rudy.
Der Bildschirm wurde schwarz und das Gerät stand still. Nur die Heizung gab noch Wärme von sich.

23. Dezember 15:30 Uhr: im Dorf

Harald hatte nicht schlecht gestaunt, als sich die Peitsche in Daniels Hand plötzlich bewegte.
»Das ist ein Zeichen!«, rief er aus.

Und da seine Mitspieler mit seiner bisherigen Leistung sehr zufrieden waren, hatten sie sich sofort darauf geeinigt, dass man erst der Peitsche nachgehen müsse, bevor man sich um eine Weihnachtsgans kümmern könne.
»Sie wird schwächer. Also drehen wir um«, kommandierte Harald. Das Vibrieren war optisch und auch akustisch kaum noch wahrzunehmen.

Harald beschlich immer mehr das sichere Gefühl, dass die Peitsche eine Art Kompass enthielt. Sie waren Marlene ganz nah.
Und tatsächlich.

Nachdem sie die eben genommene Straße verlassen hatten, wurde das Ding wieder lebendig.
»E-Es zieht mich«, stotterte Daniel hilflos. Harald hatte etwas Mitleid mit dem Pförtner. Das Unbehagen, dieses magische Ding in der Hand halten zu müssen, war ihm deutlich anzusehen.
Die Frauen wirkten nicht so, als ob sie es ihm in nächster Zeit abnehmen wollten. Und Harald brauchte beide Hände, um sich an seinem Fahrzeug festzuhalten.

»Lass dich treiben! Geh bloß nicht in den Widerstand. Das Gerät wird dir nichts tun. Es ist von Marlene«, versuchte Harald ihn zu beruhigen.
»Und genau diese Tatsache bereitet mir etwas Sorge«, gestand Renate.
»Seht ihr das Ding am Ende der Straße? Da ist etwas Rotes!«, meinte Marina und deutete gerade aus.
Die Gruppe kam gar nicht mehr dazu, ihre Frage zu beantworten.
Daniel hob vom Boden ab.

»H-Hilfe!«, kam es ihm leise über die Lippen.
Die Peitsche hielt er ausgestreckt in der Hand. Beinahe so, wie einen Zauberstab.
Daniel befand sich nur ein paar Zentimeter über den Boden aber es reichte aus, um ihn innerhalb weniger Sekunden ans Ende der Straße zu befördern.
Harald erreichte ihn als Erster.

Sie standen vor einer großen roten Kutsche, der offenbar das Dach fehlte. Am Kopfende konnte ein goldfarbener Sonnen- und im Winter wohl Schneeschutz ausgeklappt werden. Die Kutsche bot Platz für sieben Personen. Sie war aus einem stabilen Holz gebaut. Die Sitzbänke waren mit einem roten, gepolsterten Stoff bezogen.
»Da kommt man sich ja vor wie ein König«, entfuhr es Harald.

Doch ein Blick auf das Armaturenbrett, welches am Fahrersitz angebracht war, verriet ihnen, dass sie hier die neuste Technik vor sich hatten. Das Armaturenbrett enthielt auf der Fahrerseite einen Bildschirm. Auf der Seite des Beifahrers waren verschiedene Knöpfe angebracht.
Das musste eines der Geräte sein, die man auf alt getrimmt hatte, stellte Harald anerkennend in Gedanken fest. Hier hat jemand wirklich gute Arbeit geleistet.

In den Großstädten nutzte niemand diese Modelle, die nach alten Fahrzeugen aussahen. Dort interessierte man sich eher für unpersönliche und schlichte Fahrzeuge.
Die Kutsche hingegen zeigte, dass es eben doch noch verträumte Menschen auf dieser Welt gab.
Harald erinnerte sich dunkel, dass er ein ähnliches Modell vor ein paar Jahren in einer Werbung eines Schlittenherstellers gesehen hatte.

Renate und Marina stießen zu den beiden Männern. Die Peitsche lag nun ruhig in Daniels Hand.

»Und jetzt?«, fragte Daniel, der als Erster seine Sprache wiedergefunden hatte.
»Na, wir fahren Marlene besuchen«, antwortete Harald ernst.
»Wir können das Ding doch nicht einfach so mitnehmen«, warf Marina ein. Ihr Blick sagte aber, dass es sehr verlockend war, in dem Fahrzeug Platz zu nehmen.
Wahrscheinlich wollte sie tief in ihrem Inneren immer schon mal eine Prinzessin sein, lächelte Harald in sich hinein. Auch er hatte früher von einer Zukunft als Ritter geträumt.

Renate trat näher heran und warf einen Blick in das Innere der Kutsche.
»Das glaubt ihr mir nie!«, entfuhr es ihr.
Marina war sofort neben ihr und hielt einen Zettel in die Höhe, den Renate eben wohl entdeckt haben musste.
Darauf stand in Großbuchstaben:

ZU VERMIETEN!
Mit freundlichen Grüßen Lisa,
Tochter von Ernst
i.A. Marlene.

»Und wie werfen wir das Ding jetzt an?«, fragte Daniel verunsichert.
»Junge, muss man dir denn alles auf dem Tablett servieren? Wo ist deine Peitsche?«, fragte Harald ungeduldig.
Daniel hielt sie ihm entgegen.

»Marina, möchtest du uns zum Ziel steuern?«, fragte Harald.
»Meinst du denn, die Kutsche führt uns wirklich zu Marlene?«, fragte sie zweifelnd.
»Natürlich tut sie das. Sie hätte wohl kaum jemanden damit beauftragt, uns eine Kutsche zu hinterlassen, wenn es sich hier nicht um einen eindeutigen Hinweis handeln würde. Wenn wir in einer Sackgasse landen, hören wir uns halt auf dem Weihnachtsmarkt nach ihr um.« Harald hatte einen Plan.

Dann standen sie alle um die Kutsche herum. Es war anzunehmen, dass die Peitsche den Schlüssel darstellte, der die Kutsche in Bewegung bringen sollte. Doch wie sollte die Peitsche an der Kutsche befestigt werden?
»Ich glaube, ich habe da was…« Renate ließ ihren Satz unbeendet in der Straße stehen. Sie deutete auf einen schmalen Ständer, der neben dem Bildschirm klemmte.
Hätte der Ständer einen größeren Durchmesser, könnte man einen Kaffeebecher darin abstellen. Mit der momentanen Breite hatte aber höchstens ein Strohhalm oder eben eine schmale Peitsche darin Platz. Das war weit und breit die einzige Stelle, an der etwas Schlüsselähnliches angebracht werden konnte.

Daniel hielt Renate die Peitsche entgegen und sie schob den Gegenstand hinein. Alle atmeten erleichtert auf, als die Peitsche kurz aufleuchtete. Doch der Bildschirm blieb schwarz.
»Vielleicht hat jemand vergessen, die Kutsche aufzutanken. Fährt die überhaupt noch mit Benzin? Oder geht das alles nur über Strom?«, fragte Renate.

»Lass mich mal probieren.« Marina zog die Peitsche wieder heraus, steckte sie wieder hinein, doch nichts passierte.
Nachdem auch Harald sein Glück versucht hatte, blickte die Gruppe fragend in Daniels Richtung.
»Wieso soll die Kutsche ausgerechnet bei mir anspringen?«, fragte er kleinlaut.
»Weil die Peitsche dein Hinweis war und du ein verdammt guter Kutscher bist. Also mach schon«, meinte Harald.

Daniel zögerte. Er hatte keinen Führerschein. Für kein einziges Fahrzeug dieser Gegend. Nicht etwa, weil er keinen Führerschein erwerben konnte, sondern weil er Angst hatte.
Angst, dass etwas passieren könnte. Ein Unfall für den er ganz allein die Verantwortung trug. Etwas, das nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte.

»Es ist an der Zeit, dass Sie sich mal etwas zutrauen. Sie haben den Laden hier im Griff. Ohne Sie würde das Foyer wahrscheinlich nach einer alten Kloake riechen und die Wände glänzten in einer schimmligen, grünen Farbe«, hörte Daniel Marlene in seinem Kopf sagen.

Eigentlich hatte er an dieser Stelle immer lachend abgewehrt und versucht, ihr zu erklären, dass der Laden nur dank der Technik überlebte.

Doch vielleicht hatte sie Recht. Was hatte er schon zu verlieren?
Im Dorf war nicht viel los. Und wenn die Peitsche schon auf seine bloße Berührung reagierte, würde sie ihn vielleicht auch dabei unterstützen, die Kutsche zu steuern.
Er steckte die Peitsche langsam in die dafür vorgesehene Vorrichtung. Sie blinkte zweimal auf und leuchtete dann in einem schönen goldfarbenen Ton.

»Herzlich willkommen, bitte nehmen Sie nun Platz«, wurde die Reisegruppe begrüßt.
Eine kleine Treppe mit drei Stufen fuhr am Ein-gang herab und das Team Residenz stieg ein.

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Übersicht über die technischen Neuerungen im 22. Jahrhundert

8 Gedanken zu „Türchen 22: Team Residenz“

  1. Guten morgen,
    also mir gefällt das, dass der 23. Dezember auf mehrere Tage im Adventskalender verteilt ist. So wird auf jeden Fall die Spannung noch gesteigert.
    Noch ganze zwei Tage und es kommt dann die Auflösung. Darauf freue ich mich einerseits, aber es ist auch schade, das dann alles wieder rum ist.
    Ganz liebe Grüße
    Anja

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  2. Liebe Anja,

    super, dass die Idee bei Dir gut ankommt, den 23. Dezember auf mehrere Tage zu verteilen. Ja, jedes Mal, wenn ich mich hier bei Blogger einlogge, stelle ich fest, dass die vorgeplanten Posts immer weniger werden. Es ist wirklich schade, dass die Geschichte bald rum ist. Aber ich spiele mit dem Gedanken, im Oktober 2019 vielleicht ein Halloween Special mit einer Geschichte zu machen. Und mit viel Glück wird es auch wieder einen Adventskalender geben. Eine erste Idee ist schon vorhanden.

    viele Grüße

    Emma

    Antworten
  3. Jetzt wissen wir endlich wie der Kutscher heißt: Daniel! Ja, der Kutscher kennt den Weg, laut Otto. Also dürfte es kein Problem sein Marlene jetzt zu finden! Und, noch wichtiger…die vibrierende Peitsche hat ihren Hafen, auf Neudeutsch: Andockstation gefunden….Marlene sei Dank!

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  4. Liebe Anonyme,

    ich glaube zu wissen, wer Du bist und kenne wahrscheinlich auch den Grund, der Dich daran gehindert hat, Deinen Namen anzufügen :-). (Ich komme gleich mal runter, spionieren).
    Ja, da sieht man es mal wieder: Wer braucht schon einen weisen Helge, wenn er einen intelligenten Otto haben kann. Otto nennt seine Biografie nicht umsonst: "Kleinhirn für Alle!" viele Grüße
    Emma

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  5. Liebe Mitleser!
    Welch wunderbare Weihnachtliche Geschichte sich uns hier doch offenbart. Es ist herrlich mitzulesen und versetzt einen in wirklich zauberhafte Weihnachtsstimmung! Ich freue mich nun in den Feiertagen angekommen zu sein und wünsche allen weiterhin viel Freude mit dieser Geschichte und ein fröhliches Weihnachtsfest!

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  6. Liebe anonyme Kommentatorin, lieber anonymer Kommentator,

    vielen Dank, dass Du uns von Deinen Eindrücken berichtest und Dir die Geschichte viel Freude bereitet. Genau so soll es auch sein.
    Und ich hoffe, so kurz vor dem Weihnachtsfest geht es bei Dir entspannt und nicht allzu stressig zu.
    Ich wünsche Dir viel Spaß mit den letzten beiden Türchen!

    viele Grüße

    Emma

    Antworten
  7. Oh, vielen lieben Dank Emma,
    Ich wünsche natürlich auch dir als Autorin dieser Adventsgeschichte eine wunderschöne Weihnachtszeit. Ich werde mich nun ganz gemütlich auf die Couch zurückziehen und einem neuen Hörbuch lauschen! Es ist recht interessant, da die Protagonistin im selben Bereich Arbeitet wie ich es noch vor ein paar Jahren tat 😉
    LG deine Anonyme Leserin

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  8. Hello Mähm Emma,
    ich war selbstverständlich immer in der Nähe, falls man was schlimmeres verhindern sollte.
    Es hat mir auch persönlich gefallen, diese Geschichte, das Treffen mit Marlene, ob es klappt,
    und wahrscheinlich ganz ohne Leiche, ist irgendwie wie Urlaub, Mähm. Sie können sich nicht vorstellen,
    was in Los Angeles zu dieser Zeit überall Leichen rumliegen, viel Arbeit, ja, Mähm, viel Arbeit.

    Mir ist da noch was eingefallen, als jetzt dieses Fahrzeug im Old Style kam, das erinnert mich
    an mein … na, Sie wissen schon, wenn Sie meinen Namen oben anklicken, … der Peugeot 403,
    ein sehr robustes Fahrzeug, Mähm.
    Also ich mach mir über die Peitschenkarre keine Sorgen.

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