Türchen 14: Chris

Ein Kranz in dessen Mitte eine 14 ist.Noch 10 Tage bis Weihnachten

»Guten Morgen, Marlene. Haben Sie gut geschlafen?« Lisa hatte den Frühstückstisch schon gedeckt, als ich aus meinem Zimmer geschlurft kam.
Mich beschäftigte nur eine Frage: War die Jugend schon dahintergekommen, wohin Christians zweiter Hinweis führte?

»Ich muss gestehen, langsam werde ich etwas nervös«, erklärte ich. Wäre ich bei Sinnen gewesen, hätte ich bemerkt, dass Lisa eine ganz andere Frage gestellt hatte und meine Antwort nicht ganz passte.
»Sie werden schon alle kommen. Das Schneetreiben ist noch überschaubar«, meinte Lisa zuversichtlich.

»Um den Schnee mache ich mir gar keine Sorgen. Mein Sohn hat Winterreifen und der Rest wird mit den öffentlichen Verkehrsmitteln oder fahrtüchtigen Vehikeln anreisen. Ich frage mich nur, ob meine Gäste alle Puzzleteile erkennen und richtig zusammensetzen können.«

Manchmal beschlichen mich dann doch die altbekannten Zweifel an meinem eigenen Plan. Vielleicht hatte ich mich, oder besser gesagt, meine Familie und Freunde auch etwas überschätzt.

»Ich gebe zu, einfach ist es nicht. Und hier und da muss man schon sehr assoziativ denken. Aber Sie haben ihre Teams gut zusammengesetzt und ich bin mir sicher, dass Ihr Plan funktionieren wird. Spätestens, wenn Lilly, Chris und Olli verstanden haben, wen sie um Rat fragen müssen und wo die Reise hin geht, sind die Weichen gestellt«, versicherte Lisa energisch.

In Ollis Zimmer

»Eine Fahrkarte? Ist das ihr Ernst?«, fragte Olli, den Blick fest auf den »Schrink« gerichtet, der vor ihm auf dem Schreibtisch stand.

Chris und Lilly saßen hinter Olli auf einem Sofa. Alle drei beobachteten das Foyer der Seniorenresidenz schon den ganzen Morgen. Bisher war noch nicht viel passiert.
Chris nickte bestätigend. Olli, der Chris Nicken natürlich nicht sehen konnte, deutete das Schweigen seines Freundes als bestätigende Antwort.
Chris blickte auf die Fahrkarte in seinen Händen. Es war schon merkwürdig genug, dass es sich um eine Papierfahrkarte handelte.

Inzwischen waren Fahrkarten nur noch auf elektronischen Geräten abgespeichert. Auch die Senioren hatten sich zähneknirschend an die neue Art der Fahrkartenausgabe gewöhnen müssen.
In Großstädten konnten sie einen lebenslangen Fahrausweis beantragen, der ihnen in Scheckkarten-format ausgehändigt worden war. So konnten viele Senioren dem elektronischen Fortschritt doch noch eine Weile entgehen.

»Irgendwann ist die Generation der Papierfahrkarten-Kenner ausgestorben. Dann wird die Produktion eingestellt«, hatte ein Verkehrsminister in einer Nachrichtensendung erklärt.
Wären die Senioren in Social Media Kanälen aktiv, hätte ihm aufgrund dieser Aussage ein Shitstorm drohen können.

Die Karte war auf den 21. Dezember ausgestellt worden. Doch Chris verstand immer noch nicht, wohin er reisen sollte und warum ihm Marlene eine Fahrkarte schenkte. Dass er Weihnachten mit ihr verbringen sollte, hatte er natürlich begriffen.
Aber nicht, warum sie ausgerechnet ihn auserwählt hatte. Schließlich kannten sie sich doch kaum.

Da die Lobby der Datenschützer in den letzten Jahrzehnten ordentlich angestiegen war, stand natürlich kein Zielbahnhof auf der Fahrkarte. Dieser war stattdessen als verschlüsselter Zahlencode auf der Fahrkarte abgebildet.

Dieser Code konnte nur von einem Schaffner ausgelesen und einer Stadt zugeordnet werden. Und zwar nachdem man den Bahnhof betreten hatte.
Der Schaffner wies den Reisenden dann den richtigen Bahnsteig zu. Deswegen wurden Fahrkarten so gut wie gar nicht mehr verschenkt. Die Menschen waren misstrauisch und begaben sich ungern auf ein unbekanntes Abenteuer.
»Kannst du nicht irgendetwas machen?«, fragte Lilly an Olli gewandt.

»Was denn zum Beispiel? Ich überwache bereits die Residenz. Beinahe hätte es im Foyer nach Chlor gerochen. Aber der Pförtner ist irgendwie dahinter gekommen und hat meine Vorschläge aus dem System entfernt. Das wäre ziemlich lustig geworden.«
Chris grinste.
»Und wir hätten fast erfahren, was Marlenes Freunde aus der Residenz planen, wenn nicht dieses Lied die Mikrofone überdeckt hätte«, fuhr Olli fort.
»Nach Chlor? Du bist genial. Marlene hätte es gefallen«, stellte Chris anerkennend fest.
»Na, zum Beispiel den Bahnhof hacken oder so was. Irgendetwas von wo aus wir auf die Datenbank mit den Zahlen und Orten zugreifen können«, beantwortete Lilly die Frage.

Woher nimmt sie nur ihre Ideen?, fragte sich Chris beeindruckt. Er hatte keine Ahnung, was Marlene von ihnen wollte. Und ohne Lilly und Olli wäre er wahrscheinlich nie auf die Idee gekommen, noch einmal in Marlenes Wohnung vorbeizuschauen.
»Du spinnst doch! Das ist eine Nummer zu groß für mich. Nach den Regierungsgebäuden und den Flughäfen gehören Bahnhöfe zu den sichersten Gebäuden dieser Welt. In das System komme nicht mal ich rein.«

»Und wenn wir einfach zum Bahnhof gehen und euch beiden eine Karte für denselben Ort kaufen?«, fragte Chris vorsichtig. Vielleicht ist die Idee ja ganz gut und ich kann auch mal etwas Sinnvolles zur Lösung des Rätsels beisteuern, dachte er hoffnungsvoll.

»Keine schlechte Idee. Und wer bezahlt uns das Ganze? Meine Eltern sind sicher nicht scharf darauf, wenn ich ihnen erkläre, dass ich Weihnachten dieses Jahr wohl nicht mit ihnen feiern werde«, meinte Olli. Sein Blick war weiterhin auf den Bildschirm gerichtet.

»Jetzt lass doch endlich mal diesen Bildschirm in Ruhe. Oma wird schon nicht durch die Eingangstür marschieren und verkünden, dass alles nur ein großer Scherz war«, murmelte Lilly genervt.
Olli seufzte und drehte sich zu seinen Freunden um. Chris wunderte sich, dass Olli Lillys Gemurmel überhaupt verstanden hatte. Wenn er vor Technik sitzt und ich etwas von ihm will, hört er mir nie auf Anhieb zu, dachte er bei sich.
Schweigend saßen sie sich nun gegenüber. Olli rutschte nervös auf seinem Stuhl hin und her.

Chris ahnte, dass es seinem Freund schwerfiel, den Bildschirm nicht im Blick zu haben. So als würde er die Kontrolle verlieren, dachte er.

Chris suchte nach Lillys Blick und ertappte sie dabei, wie sie aus den Augenwinkeln an Olli vorbei auf den Bildschirm starrte.
Inzwischen hatten Harald und der Pförtner den Raum betreten und saßen sich am Tresen gegenüber. Sie blickten beide auf den »Schrank« am Tresen.
»Was machen die da?«, fragte Chris.
»Sie schauen sich irgendwelche Bilder von alten Dörfern an. Keine Ahnung was das soll. Das haben sie die letzten Tage häufiger gemacht«, antwortete Olli, ohne sich wieder dem Bildschirm zuzuwenden.

Lilly murmelte etwas vor sich hin. Chris verstand nur ein paar Wörter, die »Tannenbaum«, »Fahrkarte«, oder »Plätzchen« heißen konnten. Bei dem letzten Wort begann sein Magen zu knurren.
»Meint ihr, das ist ein Zufall?«, fragte Lilly plötzlich.
»Was?«, fragten beide Jungen wie aus einem Munde.

»In Marlenes Adventskalender verstecken sich Symbole. Ihr wisst schon, wenn ich die Schokolade aus den Türchen hole. Na ja, jedenfalls waren eine Schneeschaufel und eine Fahrkarte darin abgebildet. Und auf der Schokolade verstecken sich ebenfalls Symbole«, begann sie zu erzählen.
»Was hat eine Fahrkarte mit Weihnachten zu tun?«, fragte Chris verwundert.
»Genau das habe ich mir auch gedacht. Bis du dann die Fahrkarte bekommen hast«, entgegnete Lilly.
»Welche Symbole haben sich noch in dem Kalender versteckt?«, fragte Olli neugierig.
Lilly beantwortete seine Frage.

»Das kann nur ein Zufall sein. Marlene legt klare Fährten und puzzelt nicht einfach mit irgendwelchen Gegenständen«, vermutete Olli.
»Aber was ist, wenn die Symbole doch irgendwie zusammenhängen?«, fragte Chis. Wenn Lilly schon auf so kreative Ideen kam, konnte es doch sein, dass ihre Oma noch verrücktere Einfälle hatte.
»Dann erklär mir doch mal, was eine Peitsche und ein Schlitten gemeinsam haben. Oder woher Marlene diese orangenfarbenen Brillen kennen sollte? Ich gebe ihr ja nicht umsonst Nachhilfe in Technik«, entfuhr es Olli.

Dann herrschte wieder Stille zwischen den Freunden. Je länger es andauerte, desto unruhiger wurde Chris. Gerade wollte er kleinlaut einlenken und verkünden, dass er sich nicht streiten wolle, als Lilly das Schweigen brach und mit einem Lächeln ausrief: »Ich weiß, wer uns vielleicht helfen kann.«
Die Jungen blickten sie erwartungsvoll an. Doch Lilly schwieg.
»Jetzt sag schon!«, meinte Olli aufgeregt, als beide begriffen, dass Lilly auf eine Aufforderung wartete.
»Marianne! Wenn einer all diese komischen Dinge ordnen und Omas Rätsel versteht, dann ihre Schwester.«

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6 Gedanken zu „Türchen 14: Chris“

  1. Tja, wofür benötigt man eine gelbe Brille, einen Schlitten und eine Peitsche?
    Die gelbe Brille ist natürlich ein Sommer-Simulator, der Schlitten, ein Porsche und die Peitsche das Gaspedal! Und ab geht's in den Süden! So einfach….Warum kommen die nicht darauf???

    Die Grafikerin

    Antworten
  2. Nicht so vorrrschnell, wehrrte Grrafikerin, nicht so vorrschnell…
    Auch wenn ich nicht mehr lebe, so bekomme ich neue literrrarische Veröffentlichungen mit.
    Um jetzt zu behaupten, es wärre ein Porrrsche, also bitte, da ist es mir
    wahrscheinlicher, es handele sich um Inspektor Columbos Peugeot 404 Cabrio.
    Nein nein nein, was in der Geschichte vonn Emma in dieser Phase auffällt, sind die Wechsel der Erzählperrrspektiven. Wirrrklich ein diskussionswürdiger Kniff. Ganz in der Tradition der Großen Perrspektivwechsler Schiller, Heine, Hessse, Hanke, und natürrlich Thomas Mannn !
    Ich werde Sie für das literarrische Quartett empfehlen, wehrrte Emma,
    herzlich,
    Ihr Marcel Reich-Ranicki !

    Antworten
  3. Liebe Grafikerin,

    Du hast die Schneeschaufel und die Handschuhe vergessen. Diese weisen leider in eine völlig andere Richtung. Aber wer weiß, vielleicht steht Marlene ja auf Australische Weihnachten. Und die Brille ist orange. Also dieses Orange, das von Menschen getragen wird, die blendempfindlich sind.

    viele Grüße

    Emma

    Antworten
  4. Wow!
    Hoher oder sollte ich besser sagen TOTER Besuch?
    Ja, bei diesem Kommentar finde ich es tatsächlich etwas schade, dass es Google nicht möglich ist, eine Audiokommentar Funktion zu ermöglichen.
    Und warum gibt es neben dem Thomas Mann keine Thomas Frau? Feminismus ist doch in aller Munde. und vielleicht inspirierte seine Frau ja den Mann zu all seinen Werken. Das ist ein Gedanke, dem man unbedingt Beachtung schenken sollte.
    Aber kehren wir nun zurück zu den lebenden Schriftstellern nämlich zu MIR: Ob ich einen Ausflug ins Literarische Quartett wage? Ich bin mir nicht ganz sicher. So hat mir beispielsweise die Jury des Ingeborg Bachmann Preises bereits vor vielen Jahren gezeigt, dass sie gute Literatur nicht zu würdigen wissen. Da besuche ich doch lieber die Frau Schöneberger in der NDR Talkshow und unterhalte mich nicht nur mit ihr über Bücher, sondern auch den ESC Vorentscheid.

    Aber ich schweife ab und bringe zu viele Perspektiven ins Spiel. Viel wichtiger scheint die Frage: Kann Marianne dieser ahnungslosen Jugend hellfen? Oder sind Mayonnaise und Ketchup bereits verloren?

    Es bleibt spannend!

    Und ich hoffe, das WLAN geht Ihnen da oben im Himmel nicht so schnell aus, HErr Reich-Ranicki.

    Antworten
  5. Liebe Anja,

    ja, neben der Geschichte entwickeln sich auch unsere Kommentare zu einem kleinen Roman und einer spannenden Schnitzeljagd, weil sich die Frage stellt, welcher Promi morgen hier so vorbeischaut :-).

    Es freut mich, dass Du nach wie vor mit dabei bist und Grüße hinterlässt 🙂

    viele Grüße und einen guten Start ins Wochenende wünscht,

    Emma

    Antworten

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