10. Türchen – Der Proll

Ein Kranz in dessen Mitte eine 10 steht.Es tut mir leid.
Ich gehe nach Australien.

Für immer.
Ich habe da jemanden kennengelernt.
Er heißt Steve.
Ich wünsche dir alles Gute.

Immer nur ich, ich,
ich!
Das hatte sie ihm immer vorgeworfen.
Wenn er die «Ichs» in ihrem Abschiedsbrief zählte, kam er auf drei. Dabei hieß es doch immer «Alle guten Dinge seien drei.»
Ja, vielleicht bestand das «gute Ding» ja darin, froh sein zu können, sie endlich los zu sein. Dumm nur, dass sich das Ende ihrer innigen Beziehung bald wieder jährte.

Weihnachten… Wie er dieses Fest mittlerweile hasste. Wie oft hatte er sich ausgemalt, die beiden in Australien aufzuspüren und ihnen dann ordentlich einheizen zu können. Aber leider war das Geld knapp und die nötige Ausrüstung nicht vorhanden. Und vielleicht war das auch besser so. Hier in seiner Stadt fühlte er sich immer noch am wohlsten. Er kannte jede Ecke seines Viertels. Und auf seine Rituale wollte er keinesfalls verzichten.

Täglich nahm er sein Mittagessen an dieser Currywurst Bude ein. Bei diesem einsilbigen Budenbesitzer.
Was war nur über ihn gekommen, dem armen Mann von seinen Problemen zu erzählen? Na ja, nun war es jedenfalls zu spät. Heute war der heilige Tag. Der Tag von Jesus Geburt. Dabei hatte er irgendwo einmal gelesen, dass der Typ gar nicht im Winter geboren worden war. Horst streifte durch die Straßen. Warum bin ich nicht einfach in meiner warmen Wohnung geblieben? Bei einem kühlen Bier?, verfluchte er sich.
Weil das Fernsehprogramm nicht überzeugte. Das war wohl die einzig ehrliche Antwort.

Immer dieselben friedlich fröhlichen Spielfilme, die von einem glücklichen Fest berichteten. Wo war das Kontrastprogramm? Ach ja, das wurde zwar geboten, allerdings mit nervigen Lachsalven im Off bestückt.

»Hör auf zu jammern und mach was aus deinem Tag. Du siehst das Leben immer so negativ.«
Nur, weil sie die Fröhlichkeit in Person war! Das Leben war für ihn nun mal schwierig. Konnte er das dann nicht auch offen zugeben?
An einer Haltestelle angekommen, stellte er fest, dass gleich die letzte Bahn abfahren würde. Wohin sie fuhr? Irgendwo in Richtung Stadt auswärts.
»Ja, es ist kalt, aber ein Spaziergang ist vielleicht gar keine schlechte Idee«, murmelte er mehr zu sich selbst.

Die Bahn hatte ihn tatsächlich am Ende der Welt wieder ausgespuckt.
»Du solltest dir einen Hund zulegen. Vielleicht weißt du die Natur dann endlich zu schätzen, wenn du öfters raus musst.«
Es war so klar, dass so ein dummer Vorschlag nur von einer Frau kommen konnte. Als ob ein Tier irgendetwas an seiner Einstellung ändern würde. Außerdem hatte sie dann immer hinzugefügt, dass ihm Gesellschaft vielleicht ganz gut täte. Dabei suchte er doch gar keine Kontakte. Und ein bellendes Tier, das nebenbei mehr Arbeit machte und nicht einmal etwas auf seine Monologe erwidern konnte, trug ganz bestimmt nicht zu seinem Wohlbefinden bei. Wenn er der Welt nämlich etwas zu sagen hatte, wollte er schon, dass seine Zuhörer auch darauf reagierten. Sie mussten vor den falschen Entscheidungen des Lebens gewarnt und somit bewahrt werden. Das war seine Mission.

Er entdeckte den Parkplatz auf dem ein einsam verlassenes Taxi stand. Dann mussten hier irgendwo noch Menschen sein. Um diese Zeit. Dabei hatte er doch gehofft, irgendwo ungestört seinen Gedanken nachgehen zu können.

Doch da überkam ihn eine Idee. Was schaute er sonntags gern? Den Tatort. Und dort jagte ein Verbrechen das nächste. Vielleicht könnte das der Auftakt einer spannenden Geschichte sein. Tatort im Reallife. Oder warum sollte sonst ein einsames Auto mitten in der Nähe eines Sees herum stehen?
Er ging den Weg hinunter und sah aus weiter Ferne etwas leuchten. Außerdem hörte er Stimmen. Na, die konnten wohl nicht alle mit dem Taxi gekommen sein, dachte er sich, während er einen Zahn zulegte um die Gruppe schnellstmöglich zu erreichen.

Er konnte es kaum glauben. Da war seine Bude. Mit dem Budenbesitzer. Wie hieß er doch gleich? Na ja, er hatte es noch nie so mit Namen gehabt. Das hatte seine Exfreundin nämlich auch gestört. «Ich hab dir jetzt schon mindestens fünf Mal von ihr erzählt. Wenn sie uns nächste Woche besuchen kommt, solltest du schon wissen, wie meine Schwester heißt», hatte sie ihm mit vorwurfsvollem Ton erklärt.

»Was macht ihr einsamen Kojoten denn hier an Weihnachten?«, rutschte es ihm lautstark heraus, als er vor der Gruppe zum Stehen kam.
Die lebhaften Gespräche verstummten. Alle starrten ihn an.

Fünf Personen hatten sich vor der Bude platziert. Und ein Hund wuselte auch noch umher. Er stöhnte innerlich. Hoffentlich macht der Köter keinen Radau, schoss es ihm durch den Kopf.

»Das Gleiche könnten wir Sie auch fragen«, antwortete ein Mann ungefähr in seinem Alter.
»Ich gehe spazieren und dachte ich schaue mal, ob jemand meine Anwesenheit gebrauchen kann.«
Er blickte zu dem Budenbesitzer.
Dieser wich seinem Blick aus.
Na danke, das hatte ihm gerade noch gefehlt.
»Möchten Sie etwas trinken?«, fragte eine Frau vorsichtig. Sie trug eine Winterjacke, die nicht gerade günstig aussah. Darunter war der Rock eines Kostüms oder Kleides zu erkennen. Zu schick um alleine einfach mal so an Weihnachten spazieren zu gehen, stellte er fest.

»Wenn ihr etwas Ordentliches da habt und Sie sich den Drink mit mir teilen, gerne«, antwortete er und bahnte sich einen Weg an die Theke.
Die Frau stand schnell auf, verschwand in der Bude und suchte nach einer Flasche und einem Becher. Sie machte einen sicheren Eindruck. Wahrscheinlich geht sie demnächst bei ihm in die Lehre, dachte Horst anerkennend. Nie hätte er gedacht, dass der Budenbesitzer jemanden hinter seiner Theke duldete.

Ja, er musste zugeben, dass er die Frau ziemlich attraktiv fand. Diese Gelegenheit durfte er sich nicht entgehen lassen. Natürlich trauerte er seiner Exfreundin hinterher. Aber gegen eine neue Beziehung war wohl nichts einzuwenden, oder? Und welche Gelegenheit bot sich da besser an, als Weihnachten. Das Fest der Liebe.

Der Herr, der eben noch so frech gekontert hatte ,war mit seinem Gefolge aufgestanden und hatte sich ein paar Schritte von der Bude entfernt.
Sein Blick fiel nach rechts und er sah eine Frau, die in eine Decke gehüllt war. Sie zitterte.
»Na, Sie hat es wohl ziemlich kalt erwischt, was?«, fragte er und lachte über seinen eigenen Witz.
Die Frau zuckte zusammen und blickte zu Boden.

»Es gab da so einen kleinen Zwischenfall, ja«, murmelte der Budenbesitzer.
»Dann erzählt mal die ganze Story. Ich könnte etwas Lustiges vertragen an diesem schrecklichen Tag.«
Keiner rührte sich.

Die Frau, die ihm noch eben etwas zu trinken angeboten hatte, tauchte wieder auf und quetschte sich zwischen ihn und die Decken-Frau.
Besser konnte es nicht laufen. Sie stellte einen Becher vor ihm ab. Ohne einen Blick hineinzuwerfen, nahm er einen Schluck.
»Was hat Sie denn an diesem Weihnachtstag hier her verschlagen?«, versuchte die Frau ein Gespräch in Gang zu bringen.
»Ach, nur etwas die Beine vertreten. Baden gehen wollte ich jedenfalls nicht. Ich bin kein Abenteurer. Und schon gar nicht um diese Jahreszeit. Als ich jung war, gab es Idioten, die im Winter sogar…«

Ihn überkamen wieder die alt bekannten Erinnerungen seiner Jugend. Was war das doch für eine ereignisreiche Zeit gewesen. Damals als er noch jung war, Menschen um sich herum gehabt hatte. Und dann hatte sich nach und nach einiges geändert. Freunde waren Bekannte geworden. Und Bekannte irgendwann nicht mehr gern gesehen. Entweder waren sie ihm aus dem Weg gegangen oder hatten ihn mit Geschichten genervt, die er weder hören wollte noch brauchen konnte. So war er irgendwann alleine übrig geblieben. Alleine mit seiner Freundin. Die hatte es aber wie bereits erwähnt auch nicht lange mit ihm ausgehalten.

»Meine Freunde mögen dich nicht. Du redest ihnen zu viel. Ich meine, wenn es wenigstens nur harmlose Geschichten wären. Aber du hältst ihnen ständig vor, was sie alles falsch machen. Weißt du wie anstrengend das ist?«
Dabei wollte er nur vermeiden, dass es Menschen gab, die denselben Fehlern unterlagen, wie er.
»… und aus diesem Grund habe ich davon Abstand genommen überhaupt baden zu gehen. Aber Sie könnten so ein skandinavisches Bad doch sicher vertragen.«

Er nahm noch einen Schluck von dem Becher, der vor ihm abgestellt worden war. Dabei stellte er fest, dass seine Gesprächspartnerin diesen höchstens bis zur Hälfe gefüllt haben konnte. Der Becher war fast leer.

»Ich denke nicht, dass es Sie etwas angeht, was ich in meiner Freizeit unternehme.« Aha, taff war sie also auch noch. Langsam aber sicher wurde ihm wieder einmal bewusst, dass er wohl etwas Falsches gesagt haben musste. Ihr Blick schien ernst und reserviert. Das eben noch höfliche Lächeln war aus ihrem Gesicht verschwunden.

Er nahm einen letzten Schluck aus seinem Becher. Die Frau machte keine Anstalten, ihm nachschenken zu wollen. Stattdessen nickte sie ihm zu, wandte sich ab und ging zu den anderen drei Personen, die sich zuvor entfernt hatten. Anscheinend waren Neuankömmlinge zur Gruppe gestoßen.

»Gut, dann eben nicht«, stellte er achselzuckend fest. Auch der Budenbesitzer schien in ein leises Gespräch mit der Decken-Frau vertieft zu sein. Er nahm keine Notiz von Horst. Oder er ignorierte ihn absichtlich. Da war sich der Mann mittlerweile nicht mehr so sicher.
»Na, über was plaudert ihr denn?«, versuchte er sich einzuschalten. Der Budenbesitzer funkelte ihn an, während die Frau zu Boden blickte.
»Ich denke, es ist an der Zeit zu gehen«, sagte der sonst soschüchterne Mann ziemlich bestimmt.
»Ach, wirklich? Na dann auf!«, kommentierte Horst und blickte ihm dabei in die Augen. Der Budenbesitzer hielt seinem Blick stand. Und so erkannte Horst, dass nicht etwa der Würstchenverkäufer das Feld räumen wollte. Horst erlebte es nicht oft, aber in diesem Moment nahm sein Gesicht eine leichte Farbe an.
»Also gut. Wir sehen uns.«
Bemüht, weiterhin entspannt zu wirken, nickte er den beiden zu, wandte sich ab und verschwand in die Richtung aus der er gekommen war.

___________________________________

Zum NÄCHSTEN Türchen
ZURÜCK zur Übersicht

6 Gedanken zu „10. Türchen – Der Proll“

  1. Guten Morgen Anja,

    es freut mich, dass dir die Geschichte gefällt.
    Ich hoffe, deine letzte vorweihnachtliche Woche ist nicht ganz so stressig.

    viele Grüße (und vielleicht bis übermorgen zum nächsten Türchen 🙂 ).

    Emma

    Antworten
  2. Haha ein Hoch auf Google!
    Sonst sind sie ja voll für Datenspeicherung aber diesmal stehen sie wohl auf Geheimhaltung. Ich habe sie noch nicht mal dafür bezahlt.

    Übrigens möchten Isona und emion dir einen neuen Namen geben. Ich hab mich ja geweigert, dich mit dem Namen anzusprechen.

    Bei den ersten Türchen kannst du dich mit emion unterhalten.

    Und jetzt komme ich runter ins Wohnzimmer und hoffe, irgendwer muss bei unseren kleinen Dialogen hier schmunzeln.

    Herr W. hat sich auch noch nicht zu Wort gemeldet. Aber vielleicht sollte ich ihn mit Thrombospeh (ich hab das Gefühl, ich hab den Namen katastrophal falsch geschrieben) oder Merry N. Citrus ansprechen…? Wer weiß 🙂

    Antworten

Schreibe einen Kommentar

Wenn Du einen Kommentar abgibst, werden die eingegeben Daten und Deine IP-Adresse gespeichert. Die E-Mailadresse wird nicht veröffentlicht. Weitere Informationen zur Datenspeicherung findest Du in meiner Datenschutzerklärung