1. Türchen – Wie Australien

Ein Adventskranz in dessen Mitte eine goldene 1 steht.
Bild von: Emma Zecka

»Was für eine Kälte! Da geht nichts über eine ordentliche Currywurst. Also, halt dich ran und brat mir mal eine«, lachte der altbekannte Stammgast und schlug um seine Aussage zu bekräftigen, auf den Tresen.

Nun hing es ganz von Norbert ab, wie diese Szenerie endete.
An guten Tagen stimmte er in das Lachen mit ein und hatte keine Mühe Smalltalk mit dem treuen Kunden zu führen. Was wäre sein Leben ohne diesen Herrn? Ein langweiliger Ort. Jeden Tag kam er aufs Neue an Norberts Bude, um sich seine Currywurst abzuholen. Ernährungsexperten hatten ihre Stirn in Kraus gezogen und sich wahrscheinlich über die eintönige Ernährung des Kunden ausgelassen. Dennoch hielt er Norbert die Treue und bekannte sich offen zu seiner Lieblingsspeise.
An guten Tagen war Norbert dankbar für den treuen Herrn. Er gehörte nicht nur zu den zahlungsfähigen Kunden, sondern brachte auch noch eine kostenlose Portion Humor mit. Auch wenn diese wirklich eigenartig war. Doch Norbert verstand ihn.

»Gratis, wie immer«, pflegte er dann nach einem Witz zu sagen, über den wahrscheinlich nur Norbert und der Kunde lachen konnten. Nach dem täglichen Besuch gingen beide wieder ihrer Wege, nur um sich am Tage darauf an Ort und Stelle zu wiederzutreffen und ihr Spiel von neuem zu beginnen.

Doch heute war ein schlechter Tag. Kein guter für Norbert und den Kunden. Letzterer wusste noch nichts von seinem Glück. Und das war auch gut so. Denn der Kunde mochte keine schlecht gelaunten Menschen. Diese fand er unausstehlich. Aber darum soll es hier nicht gehen. Es gab schlechte und sehr schlechte Tage.

An schlechten Tagen war Norbert schweigsamer als sonst. Er hing seinen Gedanken nach und ließ den Kunden reden. Sein Geschwätz interessierte ihn nicht. Manchmal kommentierte der Kunde seine Schweigsamkeit und machte sich auf Norberts Kosten lustig. Doch Norbert schenkte ihm dann keine Beachtung.
An sehr schlechten Tagen hätte Norbert seinem Kunden die Currywurst am liebsten ins Gesicht geschmiert. Seine Sprüche regten ihn auf. Er konnte sie nicht mehr hören und wünschte sich, der Kunde würde sich ein anderes Opfer suchen und ihn endlich in Frieden in seiner Bude sitzen lassen.

Schlechte Tage konnten sich auch während des Gespräches zu sehr schlechten Tagen entwickeln. Das hing immer ganz davon ab, welche Themen so in die Runde geworfen wurden.
Norbert wandte sich ab, holte eine der Bratwürste hervor und legte sie auf den Grill.
»Bald ist Weihnachten, alter Junge. Da gibt’s bei dir doch hoffentlich was Ordentliches zu essen. Wie zum Beispiel einen frittierten Truthahn in der hauseigenen Fritteuse«, redete der Kunde.

Norbert gab einen unverständlichen Laut von sich.
»Tag ein Tag aus sitzt du in dieser verdammten, stinkenden Bude fest. Da soll doch wenigstens das Weihnachtsfest mal etwas Abwechslung in die Runde bringen.«
Norbert wollte nicht, dass sich der Kunde heute in Rage redete. Also fragte er: »Wie verbringen Sie denn die Weihnachtsfeiertage?«
Der Kunde kam seit zwei Jahren jeden Tag vorbei. Beide hätten schon oft Gelegenheit gehabt, sich über das Weihnachtsfest zu unterhalten. Doch ihre Gespräche blieben meist banal und gingen nicht allzu sehr ins Detail.

Norberts Mutter, Besitzerin dieser Bude, hatte immer gepredigt: «Keine Budenphilosophien, mein Junge. Du bist nicht ihr verdammter Therapeut. Du kümmerst dich um ihre Ernährung und brätst ihnen was Ordentliches. Wenn du deine Arbeit gut machst, kommen sie wieder. Und das ist Hilfe genug.»

An diesen Ratschlag hatte sich ihr Sohn immer gehalten. Und die Kunden kamen wieder.
»Ich? Pah!«
Der Kunde nahm einen Schluck von seinem Kaltgetränk und verstummte. Wäre Norbert aufmerksam gewesen, hätte es ihn irritiert, dass es dem Kunden so plötzlich die Sprache verschlug. So redete er doch sonst immer über alles Mögliche.
Doch es war ein schlechter Tag. Und so tauchte Norbert in einen Tagtraum ab, während er die Wurst briet und die Currysoße anrührte.

In diesem Tagtraum sah er sich, wie jedes Weihnachten, alleine vor seinem Fernseher sitzen. Wenn ihm das Fernsehprogramm hold war, würde es diese drei Tage etwas erträglicher machen. Doch schon die letzten Feiertage hatten nichts Gutes bedeutet. Eintönige Filme oder solche, die Norbert bereits in und auswendig kannte und ihn nicht davon ablenkten, dass irgendwo eine Familie saß und das Weihnachtsfest gemeinsam feierte. Um genau zu sein nicht eine, sondern seine Familie. Warum er nicht bei ihnen war? Das war auch eine Geschichte wert. Eine Geschichte, die aber nicht hier und heute erzählt werden soll.

»He, Junge, hörst du mir überhaupt zu?«, holte ihn der Kunde in die Gegenwart zurück.
Norbert blickte von seiner Arbeit auf. Die Wurst war fertig. Die Soße auch. Er schob seinem Gast den Teller hin.
»Weihnachten ist ein einziges Chaos. Ich kauf mir einen Kasten Bier und hoffe, dass ich damit die Feiertage durchkomme. Anders ist dieses ganze schnulzige Ding ja nicht zu ertragen, was?«
Das sonst so fröhliche Lachen hatte diesmal einen traurigen Beigeschmack. Norbert nickte wissend, obwohl er sich noch nie in Alkohol ertränkt hatte.
»Weißt du, hätte ich eine ordentliche Stange Geld, dann würde ich nicht hier herum sitzen. Jedes Jahr Eiseskälte und keine einzige Schneeflocke. Ich sag mir immer, entweder ganz oder gar nicht. Halbe Sachen gibt’s bei mir nicht.«

Norbert blickte ihn fragend an. Was sollte das nun schon wieder heißen?
»Komm schon, Junge! Du weißt schon! Entweder Winter mit ordentlichem Schneetreiben oder Weihnachten in Australien am Strand. Und glaub mir, letzteres wäre mein absoluter Favorit. Keine erfrorenen Gliedmaßen oder jammernde Menschen. Stell dir das doch mal vor! Den Heiligabend surfend am Strand zu verbringen. Das wäre ein Traum.«

Die Augen des Kunden begannen zu leuchten.
Norbert fand sich ganz kurz in der Fantasie des Mannes wieder. Der Strand voll gut gelaunter Menschen. Weihnachten war ein Tag wie jeder andere auch. Man verbrachte ihn am Wasser, grillte und brachte vielleicht sogar ein paar Geschenke mit um dem Tag doch etwas Besonderes zu verleihen. Wenn es dunkel wurde, entfachte man das Lagerfeuer, holte die Gitarre hervor und stimmte ein paar australische Weihnachtslieder an.
Wobei… Gab es sowas überhaupt? Norbert hatte schon immer einen Gefallen an englischen Weihnachtsliedern gefunden, deren Inhalt er nicht verstand, die aber alle etwas Fröhliches, Verträumtes ausstrahlten. Nicht diese tristen Lieder, die er früher schon im Gottesdienst hatte mitsingen müssen.

»Wenn das verdammte Feuer dann langsam herunterbrennt, starren die Sensibelchen in den Himmel und freuen sich über die Sterne. Schauen sie dann genau hin, finden sie sogar eine Sternschnuppe und können sich was wünschen. Das wär doch was Feines, oder? Tja, genau das hat sich meine Frau auch gedacht und ist ohne mich nach Australien. Und ich bleibe hier allein zurück mit demselben Traum und einem leeren Konto. So ist das Leben, Junge. Also, bleib lieber in deiner Currybude und spar dein Geld für eine neue Fritteuse«, beendete der Kunde die Vision, die bis gerade eben noch einen schönen Zauber verbreitet hatte.
Er stand auf, winkte zum Abschied und verschwand.

Den ganzen restlichen Tag dachte Norbert über diese Vision nach. Australien war eindeutig eine Nummer zu groß. Das war ihm bewusst. Außerdem hatte er keine Ahnung, wie er innerhalb so kurzer Zeit den Kontinent wechseln konnte. Doch eines war klar: Dieses Weihnachtsfest sollte anders werden. Er hatte keine Lust mehr einsam und allein in seiner Wohnung zu sitzen. Schon allein bei der Vorstellung packte ihn die Wut.

»Wut, mein Junge, ist eine gute Sache. Denn, wenn du sie in die richtigen Bahnen lenkst, kannst du ordentlich was bewegen.«
Noch so ein weiser Spruch von der Frau Mama.
Und während er so da stand und grübelte, wo er das Weihnachtsfest verbringen wollte, überkam ihn eine leise Ahnung. Diese Ahnung formte sich zu einem Bild. Ein Grinsen schlich sich auf sein Gesicht.

Die Arbeit war getan. Er hatte die Bude verschlossen, sich hinter das Steuer gesetzt und war sofort losgefahren. Raus aus der Stadt in die Natur. Obwohl der ausgesuchte Platz nicht ganz von der Außenwelt abgeschnitten war, verirrte sich im Winter niemand hier hin. Und er liebte diesen Platz. Egal ob bei Kälte oder im Sommer. Der zugefrorene See lag etwas versteckt. Man musste sich schon in der Gegend auskennen. Im Sommer kam es häufiger vor, dass sich kleinere Grüppchen über einen ruhigen Platz freuten, an dem sie grillen konnten. Doch im Winter bevorzugten die jungen Leute die Eislaufbahnen und zwar an zentralen Orten. Niemand war so verrückt einen einsamen See aufzusuchen. Norbert hatte hier viele schöne Momente verbracht. Gemeinsam mit seiner Familie. Damals, als alles noch perfekt gewesen war.

Doch alleine hier her kommen, hatte er sich bisher nie getraut. Was war man denn für ein einsamer Schlucker, wenn man keine Freunde hatte, mit denen man diesen Ort teilen konnte? Da waren die eigenen Wände doch viel sicherer. Da fand niemand heraus, dass man im Großen und Ganzen eigentlich allein war. War es wirklich eine gute Idee Weihnachten hier verbringen zu wollen? Zweifel machten sich breit.
»Du hast dich lange genug von anderen bestimmen lassen. Glaub verdammt nochmal an dich selbst!«, sagte sich Norbert und parkte auf dem verlassenen Parkplatz ein.
Er stieg aus, lief den Kiesweg hinab und fand sich vor dem großen See wieder. Den Ort, den er seit Jahren gemieden hatte. Und da wusste er: Hier war sein Australien.

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10 Gedanken zu „1. Türchen – Wie Australien“

  1. Liebe Anja,

    es freut mich, dass dir die Geschichte gefallen hat und du den Adventskalender letztes Jahr ebenfalls gerne gelesen hast. (Ich erinnere mich da auch an einen kleinen Austausch).

    Es freut mich, dass du dieses Jahr wieder mit dabei bist!

    viele Grüße und einen schönen Start ins Wochenende wünscht

    Emma

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  2. …Tja, es beginnt verheißungsvoll!!! Die Grafikerin hast Du schon mal mit auf die erste Reise genommen! Currywürste oder Australien? Schwere Entscheidung….

    Schön, dass Deine Ideen wieder Buchstaben finden und Du Deine Welt mit uns teilst!

    Die Grafikerin

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  3. Du meinst, deine Ideen bekommen Buchstaben? 🙂
    Ich könnte jetzt Andreas Kümmert zitieren, der mal so etwas sagte, wie "Wir sind wie Milli Vanilli…" Aber ich glaube, es ist besser, wenn ich das nicht weiter ausführe.

    ich hoffe, du bleibst weiterhin dabei. Der Rekord ist ja bis zur Hälfte 🙂

    viele Grüße

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  4. Salle du!

    Jetzt hab ich auch mal hierher gefunden.
    Es fängt interessant an, aber ich hatte beim Lesen die ganze Zeit so ein "Häää?"- und gleichzeitig so ein "Komm zum Punkt!"-Gefühl.
    Allerdings hat mich das auch neugierig gemacht wie es mit dem Mann weitergeht.

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  5. Hey ho,
    na dann herzlich willkommen 🙂
    Hihi, "Häää?" wird wohl deine Lieblingsfrage bleiben :-).

    Ich bin gespannt, wie dir die weiteren Türchen gefallen. Allerdings befürchte ich, dass ich einen kleinen Shitstorm wegen meiner Auflösung bekommen werde.

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  6. ENDLICH schaffe ich es auch mal den heißt ersehnten Kommentar zu hinterlassen. Und das sogar noch vor Weihnachten!
    Bisher habe ich mir die Türchen nämlich immer vorlesen lassen.

    Bis auf die Kommata fängt die Geschichte schon verheißungsvoll an.
    Norbert ist ein wenig einfacher gestrickt, kann das sein?

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  7. Muahaha! Ich renne gleich mal ins Wohnzimmer und verkünde der Grafikerin die gute Nachricht 🙂

    Inwiefern einfacher gestrickt? Er versteht jedenfalls ein bisschen was zwischen den Zeilen.

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