1. Türchen: Die Reise beginnt

Ein aufgeklapptes Buch an dessen Ecke eine Mütze hängt auf der eine 1 steht.
Bild von: Emma Zecka

„Hast du den Baum schon rein geholt?“
„Sind die Geschenke schon im Wäschekorb?“
„Wann holst du die Kinder von der Schlittschuhbahn ab?“

Fragen über Fragen. Alle wollen sie kurz vor knapp beantwortet werden. Es ist Weihnachten. Das Haus ist schon so gut wie geschmückt, einzig und allein der Baum sollte noch behangen werden. Aber das gehörte nicht zu meinem Aufgabenbereich. Dafür waren die Kinder verantwortlich, wie jedes Jahr. Allerdings war dieses Jahr Vorsicht geboten. Die Aufgabe könnte schließlich auch aufgrund von Müdigkeit an andere Personen abgetreten werden.

Immerhin hatten sie ja den ganzen Tag auf dem zugefrorenen See verbracht. „Hoffentlich halten sie bis zur Bescherung durch“, dachte ich mir, bewegte mich in den Hausflur und suchte in aller Gemütlichkeit meine Stiefel heraus. Nein, nicht nur der Nikolaus trägt Stiefel. Schon fast an der Haustür angekommen, wurde ich zurückgepfiffen.

„Du hättest fast den Wein vergessen? Wenn du den heute nicht vorbeibringst, musst du das auch nicht mehr machen.“ Ich seufzte. Verschenkten wir doch jedes Jahr eine gute alte Flasche. Ginge es nach mir, würden wir zumindest die Sorten wechseln. Wer trinkt schon jedes Jahr den gleichen Wein, wenn er nicht gerade gut ist? Im Beruf predigt man Abwechslung. Warum also nicht auch bei den Geschenken?

Die Tüte entgegengenommen, zum Auto geschlurft. Die Straßen waren schneebedeckt. Zum Glück hatte ich die Winterreifen schon im Oktober besorgt. Nie käme es mir in den Sinn, dieser Tätigkeit nicht nachzukommen. Auch wenn sie sagte, dass es sinnlos sei, jedes Jahr das gleiche Theater auf sich zu nehmen. Aber sie war auch noch nie auf das Auto angewiesen. Ich war schon immer derjenige, der die Kinder abholte, herumfuhr, oder einsammelte, wenn sie sich wieder einmal verfahren, oder verlaufen hatten. Wenn mich jemand fragen würde, hätte ich kein Problem damit, ihm immer wieder zu erklären, dass ich die meiste Zeit in diesem Wagen verbringe. Einzig und allein um uns das gut bürgerliche Leben zu finanzieren, das wir führen.

An der Schlittschuhbahn angekommen, herrschte reges Treiben. Viele Kinder schmückten den See, während an einer anderen Ecke – Moment Seen sind ja rund und haben gar keine Ecken – eine Gruppe Jugendlicher damit beschäftigt war eine Art Contest auszutragen. Ich blickte mich amüsiert um. Rundum, ja dieses Wort bekommt bei einem See eine ganz neue Bedeutung, begegneten mir glückliche und zufriedene Menschen. Wie sollte das an Weihnachten auch anders sein? Dass ich gleich den schwersten Schritt, die schlimmste Fahrt des Jahres, vor mir hatte, schien niemanden zu interessieren. „Papa! Endlich! Sandy wäre mir beinah über die Hand gefahren. Und ich hatte noch nicht mal Handschuhe an“, mein jüngster Sohn stürmte mir mit roter Nase entgegen, mit den Schlittschuhen um sich schleudernd.

„Ja, wenn Moritz sich auch mitten auf freiem See die Schuhe zubindet!“, polterte Sandy hinterher. „Na, seid ihr bereit für den Baum?“, fragte ich, wie beinahe immer, tiefenentspannt. Die Streitgespräche gehörten schließlich zum Alltagsgeschehen. „Ich hab schon einen genauen Plan gemacht. Oben kommt nur rot, unten blau und in der Mitte Gold hin. Dann ist es wenigstens einheitlich“, erklärte Sandy stolz. „Das ist völliger Schwachsinn“, protestierte Moritz und setzte gleich hinterher: „Können wir jetzt gehen?“ Ich nickte und wir bewegten uns in Richtung des Autos.

„Was ist in der Tüte da?“, fragte Sandy. Sie deutete auf die Geschenktüte, in der sich das Getränk befand. Manchmal hatte ich schon darüber nachgedacht, ein bisschen Brechmittel unterzumischen. Vielleicht würde sie dann endlich darauf verzichten, ihm jedes Jahr eine Flasche Wein zu schenken. „Die muss ich noch vorbeibringen“, murrte ich. „Aber nicht wieder bei diesem Spießer?“, fragte Moritz entgeistert. Ich lachte auf. Ja, das war MEIN Sohn! Ich unterdrückte einen aufkommenden Schwung an Begeisterung und tadelte stattdessen: „Du sollst ihn nicht so nennen. Auch wenn er eine eigenartige Art zu leben hat, ist das noch kein Grund ihn“- Moritz unterbrach mich: „In seinem Vorgarten liegt nix rum. Der ist total ordentlich. Ich wette, dass er den Schnee mäht, damit es ja keine Berge gibt.

Hast du dir mal seine Frau angeschaut? Die ist wie ein Schatten. Da sagen ihre Kinder ja noch mehr. Der ist total langweilig, der Typ. Seine ganze Familie ist ätzend“, platzte es aus Moritz heraus. „Du bist doch nur genervt, weil er Mama jede Woche Klavierunterricht gibt“, seufzte Sandy. Zum Glück erklärte sie ihm nicht, dass man Schnee nicht mähen konnte. „Wenn es nur das wäre! Die wollten mich allen Ernstes in der Musikschule anmelden. Ich lass mir doch keinen Anzug und Krawatte andrehen“, wehrte sich der 10-Jährige. Ich startete das Auto. Was getan werden muss, muss getan werden. Da half kein Aufschub.

„Wollt ihr mit rein kommen?“, fragte ich mehr aus Höflichkeit heraus. Obwohl Sandy ihre Meinung zu ihm nie offen geäußert hatte, wusste ich, dass sich ihre Sympathie ebenfalls in Grenzen hielt. Und das ganz ohne mein Zutun. Aber ich habe es nach wie vor nicht nötig, meine Kinder gegen den Feind aufzuhetzen. Das bekam er auch ganz gut alleine hin. „Vergiss es! Ich genieße die Weihnachtsferien in denen er keinen Fuß in unser Haus setzt. Da muss ich mir die Füße nicht noch beschmutzen, indem ich sein sauberes Exemplar betrete“, blökte Moritz. Von wem er wohl diese geschwollene Sprache hatte? Wahrscheinlich ging das unbewusst auf das Konto meiner Frau. „Wenn er doch nur so denken würde, müsste ich seine Spuren nicht jedes Mal aufs Neue aus meinem Bett beseitigen“, dachte ich, nahm die Tasche, öffnete die Autotür ohne Sandys Antwort abzuwarten.

Ich blieb zwei Minuten vor der Haustür stehen. Mein Blick war auf meine Armbanduhr geheftet. Ich hörte fröhliche Weihnachtsmusik und sah auch ein Licht im Flur brennen. Dennoch hoffte ich, dass das Unwahrscheinliche eintreten und mich niemand entdecken würde. Oder das Naheliegende: Die Haustürklingel abgestellt, oder kaputt war. Ich drückte und eine schöne Melodie hallte durch den Hausflur.

Keine halbe Minute später stand mir seine Frau gegenüber. Ich sah sie mehr oder weniger gezielt dreimal im Jahr. Zu den halbjährigen Elternabenden und zu der Weinübergabe. Schon seit vielen Jahren machten wir uns alle etwas vor. Und warum? Um niemanden zu verletzen. Um eine Illusion aufrechtzuerhalten. Um Traditionen nicht zu zerstören. Kommt doch jeder in gewisser Weise auf seine Kosten. Meine Wäsche wird gewaschen, ich bekomme ein warmes Essen auf den Tisch, habe wundervolle Kinder. Eine Frau, die mich nicht versteht, oder sich nie die Mühe gemacht hatte, auch nur einen Versuch zu unternehmen mich erfassen zu wollen, wird hier völlig überbewertet. Dennoch spielte ich jedes Jahr mit dem Gedanken ihm die Flasche ins Gesicht zu schleudern. Soll er sich doch seinen beschissenen Wein selbst kaufen. Geld hatte er ja genug. „Ach, Sie schon wieder“, strahlte sie mich unsicher an, der Versuch eine Lockerheit an den Tag zu legen, wo wir beide doch wussten, was Sache ist. Ich spielte mit, wie jedes Jahr. „Ist Ihr Gatte zu sprechen?“ Kurz nachdem ich die Frage ausgesprochen hatte, tauchte er hinter ihrem Rücken auf. Mit einem beinah offensichtlichen „McCain“- Lächeln auf dem Gesicht. Wobei er hier ziemlich gut mit der Pommes Werbung mithalten konnte. „Ach, Schatz! Geh du nur wieder rein. Ich kümmere mich schon darum.“ Sie rauschte so schnell wieder davon, wie sie gekommen war. Ohne einen Abschiedsgruß. Würden wir uns doch bald wieder sehen. Ohne unsere Partner.

„Sie hat den Wein nicht vergessen“, murmelte er mehr zu sich selbst. „Eigentlich könnte sie Ihnen das Ding auch selbst geben“, versuchte ich ein Gespräch zustande zu bringen.

Er blickte mich verdutzt an. Fast hätte ich ihn gefragt, ob er denn glaube, dass ich vollkommen schwachsinnig sei. Ob er allen Ernstes denke, ich würde seinen widerlichen Geruch nicht wahrnehmen? Der die Luft unseres Schlafzimmers verpestet? Dass er nie nach seiner Krawatte gefragt hat, die zerschnitten im Restmüll vor sich hin schmorte… „Naja… Sie sind ja jede Woche in unserem Haus, was?“, meinte ich, klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter.

„Ihre Frau ist wirklich fantastisch. Da kann sie von Glück reden, so einen tollen Ehemann zu haben. Der neben seiner Arbeit als Musiklehrer noch Zeit findet, ausführlichen Hausunterricht zu geben“, plapperte ich weiter. Sein Lächeln begann zu bröckeln. Die Tasche behielt ich immer noch fest in der Hand. „Ja, wissen Sie… Meine Frau schwärmt ja geradezu von Ihnen. Da bezahle ich ihr den Unterricht natürlich gerne.“ Ich genoss es, ihn leiden zu sehen. „Was sagt Ihre Frau eigentlich zu Ihren außergewöhnlichen Talenten?“, fragte ich gnadenlos weiter.

Ehe er zu einer Antwort ansetzen konnte beantwortete ich mir die Frage selbst: „Ach, wahrscheinlich weiß sie noch gar nichts davon. So viel beschäftigt, wie Sie sind. Naja… ich möchte Sie ja nicht weiter aufhalten. Meine Frau hat erzählt, dass Ihre Schwiegereltern wie jedes Jahr angereist sind. Da können Sie froh sein, dass diese so handzahm sind, wie Ihre Frau. Meine sind regelrechte Kotzbrocken“, langsam fragte ich mich, was über mich gekommen war. Vielleicht hätte ich vorab nicht die zwei Bierflaschen leeren sollen… Naja, was soll‘s… Ich stellte die Geschenktüte vor ihm ab. „Ich muss dann mal wieder“, ich wollte mich gerade umdrehen und in Richtung des Autos marschieren. Bevor Moritz angerannt kam und fragen würde, wie lange das ganze Theater noch dauern sollte.

„Nichts für ungut. Ich weiß Ihre Offenheit wirklich zu schätzen“, verabschiedete er sich von mir, nahm den Wein und knallte die Haustür zu. Einzig und allein an dem Schlag konnte man erspüren, dass ihn meine Worte nicht kalt gelassen hatten. Zufrieden entfernte ich mich von diesem schrecklichen Haus. Was wäre das Leben wohl ohne eine ordentliche Portion Abenteuer und gute Getränke!

Frohes Fest und bis nächstes Jahr, werter Freund der Familie!

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8 Gedanken zu „1. Türchen: Die Reise beginnt“

  1. Ich bin die Erste!!
    Also….fängt ja schon mal gut an, die Adventszeit, mit angedeuteten Beziehungsgeschichten! Eine Geschichte die wie das Leben dahinfließt, mich aber so mitnimmt, dass ich wissen will wohin diese "Reise" geht! Und Gedankengänge, die meine sein könnten…

    Toller Beginn!

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  2. Puh… Ich weiß ja nicht was ich davon halten soll! Es ist definitiv super geschrieben!!!! Bin ja mal gespannt wie die Beziehungskiste weitergeht. Ich hoffe zumindest das es weitergeht!?

    LG Skyara

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  3. Joho!

    Der Typ hat ja mal gar keine Eier in der Hose, so wie mir das scheint. Entweder mir fehlen noch Details, um das ganze Ausmaß zu erfassen oder aber er ist so eine Lusche, dass er sich ernsthaft von seiner Frau dazu zwingen lässt, ihrer Affaire Wein zu schenken. WTF?!
    Und – hat er was mit der Ehefrau von dem Typen?
    Wenn ja sollte er sich nicht so aufführen. Pah!

    Ansonsten finde ich es spannend.
    Aber – Was hat er für dämliche Kinder, dass die sich am laufenden Band verlaufen und verfahren? =D

    LG Mone

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  4. Gruselig… Gedankengänge, die deine sein können… Vielleicht liegt das ja sogar in der Familie :-).
    Es freut mich sehr, dass dir der Auftakt gefallen hat. Aber ich kann schon mal so viel verraten: Meine Lieblingsgeschichte kommt noch.
    Viele Grüße und vielen Dank für deinen Kommentar
    Emma

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  5. Du bist toll! Ich danke deinem PC – oder deinem Techniker – das du dir den Adventskalender letzt live durchlesen kannst :-).
    Also … naja ich habe ja nicht beschrieben in welcher Stadt die FAmilie lebt. Vielleicht ist das Verkehrssystem dort etwas kompliziert und sie wurden nicht genug sozialisiert um die Verkehrsordnung zu beachten (OK … ich hör jetzt auf mit der Fachsprache).
    Im Übrigen kennst du die Person, die ich mir als Vorbild für die Geschichte genommen habe… 🙂

    ganz herzliche Grüße und bis hoffentlich bald (auch wenn es "nur" zwischen Tür und Angel ist).

    Emma

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  6. Hey! Ich mag die Idee mit dem Gegenstand, der quasi die ganzen Geschichten verbinden soll (ich glaube, es ist die Flasche, oder?). Das klingt wirklich sehr cool und könnte spannend werden 😉

    Was mir sonst auffällt: Dein Schreibstil liest sich für mich sehr… allgemein. Ja, das Wort passt ganz gut. Ich habe öfter den Eindruck, dass sowohl der Erzähler als auch alle anderen Personen sich ähnlich ausdrücken (was mir ein wenig bei den Kindern auffällt). Die Personen wirken alle noch ein wenig flach, was sie am Anfang einer Geschichte natürlich auch noch dürfen ;), aber dennoch würden mir die Dialoge etwas authentischer besser gefallen. Jedoch finde ich das dann irgendwie auch ganz nett, weil es meiner Meinung nach bei mir auch so ist im Schreiben 😀
    Auf jeden Fall ein spannender Anfang!

    LG

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  7. HEy,
    also du machst mich ja schon verdammt neugierig, wer du bist 🙂 Es freut mich, dass auch dir der Auftakt ganz gut gefallen hat.
    Bei dem Kalender wollte ich zum einen üben, Handlungsstränge sinnvoll miteinander zu verknüpfen, aber auch viele verschiedene Charaktere zu beschreiben, die sich eben auch voneinander unterscheiden und nicht "alle gleich" sind. Ich hoffe, dass ist mir bei den weiteren Türchen einigermaßen gelungen. Deine Aussage bringt mich jedenfalls zum nachdenken 🙂

    viele Grüße
    Emma

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