Türchen 5: Jürgen

Ein Kranz in dessen Mitte eine 5 steht.Lieber Jürgen,

wenn Du meine erste Nachricht empfangen hast, bist Du bereits im Bilde: Ich habe beschlossen, über die Weihnachtsfeiertage zu verreisen. Ich bin mir sicher, dass ihr ganz gut ohne mich auskommen werdet.
Damit Du aber nicht ganz leer ausgehst, habe ich ein Geschenk für Dich. Das ist nur mit einer einzigen Bitte verknüpft:

Ich habe Annika und Lilly etwas versprochen, dass in einem Dorf abgeholt werden soll. Und die beiden haben ja bekanntlich kein Auto.
Damit ihr auch sicher durch das Schneetreiben kommt, Du kennst ja die Witterungsbedingungen außerhalb von Großstädten, habe ich Dir ordentliche Winterreifen spendiert. Du weißt schon, diese Dinger, die sich dem Boden anpassen und sich durch das größte Schneetreiben graben können.

Du solltest wirklich aufhören, so sparsam zu sein, Jürgen. Natürlich kannst Du auch gerne das Weihnachtsfest mit den beiden verbringen. Ich denke, da haben sie sicher nichts dagegen.

Wir sehen uns im neuen Jahr.

Frohe Weihnachten!

Deine Marlene

Fünfter Dezember

Sie spinnt ja! Als ob ich den Heiligen Abend freiwillig bei meiner Adoptivschwester und ihrer Tochter verbringen würde. Wir können uns nicht ausstehen. Und das weiß meine Mutter ganz genau. Damit würde ich ihr und – wie heißt die Kleine doch gleich? Lilly? – ganz bestimmt keinen Gefallen tun.
Und warum kann sie den beiden das Geschenk nicht einfach mit einer Drohne zukommen lassen? Warum werde ich für eine Tour eingespannt?

Aber meine werte Frau Mama kennt mich auch ganz gut: Als ob ich mir die Mühe mache, nach ihr zu suchen. Schließlich wird sie früher oder später schon wieder auftauchen.
Egal, wie verrückt ihre Ideen waren: Sie ist immer zurückgekommen. Und auch im Alter sollte man ein Recht auf ein Abenteuer haben, oder?

Ich öffnete die erste E-Mail, die mich Ende November erreicht hatte. Und da stach mir das Wort Überraschung ins Auge. Meine grauen Zellen kamen langsam in Gang. Was könnte das wohl sein?
Eigentlich führte ich ein sehr zufriedenes Leben. Meine Arbeit wurde gut bezahlt und mein Kontostand stieg von Monat zu Monat.
Meine Adoptivschwester Annika hingegen hatte einfach kein Händchen für Geld. Sie hätte einfach nicht so früh schwanger werden sollen.

Ich gönnte mir nicht viel. Selbst mein Auto war für unsere Verhältnisse steinalt. Wozu sollte ich in einen neuen Wagen investieren, wenn das alte Modell noch ohne Probleme lief?
Aber wenn es um das Thema Wohnen ging, kannte ich nichts. Da musste es schon etwas Nobles sein und nicht so ein Loch, am Stadtrand.
Meine Wohnung lag in einer gut bürgerlichen Gegend. Immerhin konnte ich mir meine Nachbarn aussuchen. Und von diesem Recht machte ich sehr gerne Gebrauch.

Aber meine Mutter pflegte immer zu sagen, dass mir mein Einkommen so oder so locker reiche und ich es daher ruhig teilen solle. Dabei tat ich das ja schon. Mit der Stadtverwaltung, indem ich monatlich meine Miete überwies. So wie das nun mal gute Bürger tun.
Der Stadtteil, in dem meine Wohnung lag, war mit den neusten Technologien ausgestattet. Genau deswegen konnten ihn sich auch nur Menschen mit einem guten Einkommen leisten. Oder man hatte eben Beziehungen.
Ich blickte aus dem Fenster und stellte grinsend fest, dass sich nichts verändert hatte. Der Straßenboden war nach wie vor grau. Genau so, wie es sein sollte.

Die Bodentemperatur lag immer über 0 Grad. Falls also doch mal ein paar weiße Flocken herunterfallen würden, blieben sie hier nicht lange liegen.
Zum Glück hatte ich mich noch nie damit befassen müssen, wie dieser Spaß funktionierte. Ich war froh, wenn die Technik das machte, was ich wollte. Alles was darüber hinausging, überstieg meine Kompetenzen.
Und selbst in den anderen Stadtteilen kam ich gut mit meinen Sommerreifen zurecht. Die Räumungsdienste hatten nämlich genügend Kapazitäten frei, sich nun ausführlich den anderen Stadtteilen zu widmen. Und nicht zu vergessen hatte sich die Reifentechnik in den letzten Jahrzehnten in schnellen Schritten weiterentwickelt.

In Annikas Gegend hingegen, sah es da ganz anders aus. Was muss sie auch am Stadtrand wohnen?, dachte ich. Es gab doch sicher auch Stadtteile, in denen selbst Annika mit ihrem Einkommen gut leben konnte, oder? Momentan wohnte sie, um mal einen fußballerischen Vergleich anzuführen, irgendwo am Ende der Zweiten Liga, direkt auf dem Abstiegsplatz.
Sie hätte ja auch zu unserer Mutter ziehen können. Die lebte nämlich zentral, bevor sie sich für dieses Pflegeheim entschieden hatte. Residenz! Pah!

Immerhin musste ich ihr keinen Cent zahlen. Ein Glück, dass sie alleine für ihren Lebensunterhalt aufkommen konnte.
Das wäre ja noch schöner. Erst adoptierte meine Mutter, als ich zehn Jahre alt war, noch ein Mädchen, mit dem ich dann mein Erbe teilen durfte und dann hätte ich sie auch noch im Alter unterstützen sollen. Zum Glück konnte sie mit ihrem Geld genauso gut haushalten, wie ich. Da sah man mal wieder, dass wir wohl doch zu einer Familie gehörten.

Soll ich mir wirklich die Mühe machen, Annika und ihr Kind an Weihnachten zu besuchen? Schließlich ist es hier in meiner Wohnung doch auch ganz gemütlich. Und ich muss kein Geld für irgendwelche Geschenke ausgeben, überlegte ich. Und wenn ich ihr dabei helfen soll, dieses mysteriöse Etwas zu beschaffen, dann sollte sie sich schön selbst bei mir melden.
Aber wenn mir meine Mutter schon mal Winterreifen spendierte … Das musste ich ausnutzen.

Als ich die Autowerkstatt meines alten Schulfreundes Alex betrat, stand eine blonde Schönheit vor mir am Tresen.
An Marina kommt sie nicht ran. Vergiss es, machte sich eine Stimme in mir breit. Ich seufzte leise. Warum musste ich ausgerechnet jetzt an Marina denken? Schließlich hatte sie noch nicht einmal blonde Haare.
Die Frau vor mir trug ein Kostüm und hatte ihre lockigen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Soll ich sie ansprechen?, überlegte ich.

»Ich habe Ihnen einen ganz einfachen Auftrag gegeben«, fauchte die Frau ihr Gegenüber am Tresen an.
Interessiert hörte ich zu.

»Meine Autofarbe sollte sich bei einem Knopfdruck pink färben. Pink habe ich gesagt. Und dazu sollte laut und deutlich >Barbie Girl< zu hören sein. Sonst funktioniert das mit dem perfekten Auftritt bei der Kostümparty nicht. Es war schon anstrengend genug, meinen Haaren diese blonde Farbe zu verpassen. Wissen Sie was dieses blöde Auto stattdessen macht?«, fuhr sie aufgeregt fort.
»Vielleicht >Baby one more time< spielen?«, riet mein Freund unbeholfen.
»Sehr witzig. Das Lied ist so steinalt. Das kenne noch nicht mal ich.«
Es entstand eine kurze Pause und mir wurde bewusst, dass ihr Wunschhit wahrscheinlich älter sein musste, als das von Alex vorgeschlagene Lied.

Als sie bemerkte, dass Alex keinen weiteren Versuch wagen würde, brüllte sie: »Es färbt sich grün! Verdammt nochmal grün! Und spielt >Kommissar<! Da denken alle, dass ich eine verdammte Kommissarin bin. Können Sie sich auch nur im Ansatz vorstellen, wie demütigend das ist?«

Ich musste mir ein Lachen verkneifen. Wenn ich die Wahl zwischen einem cleveren Polizistenkostüm oder einem primitiven Frauenkostüm hatte, war meine Tendenz eindeutig. Ich spähte an ihr vorbei und sah, dass es Alex ähnlich ging.
Bevor ihn ein weiterer Wutausbruch traf, erwiderte er schnell: »Da haben sich unsere Programmierer wohl einen bösen Scherz erlaubt. Ich kümmere mich drum und werde die Änderungen persönlich überwachen.«

»Ich bitte darum!« Dann schlug sie einmal auf den Tresen, wandte sich ab und stürmte an mir vorbei.
Ich nahm ihren Platz ein.
»Na, dich habe ich hier aber schon lang nicht mehr gesehen«, begrüßte mich Alex. Er war der einzige Schulfreund, den ich je hatte.

Die Autowerkstatt hatte sich in den letzten Jahrzehnten rasant verändert. »Möchtest du deine alte Schrottkarre endlich gegen ein modernes Fortbewegungsmittel eintauschen? Ich gebe es dir auch ganz schlicht in Schwarz und mit AC/DC Sound wenn du magst.« Alex versuchte mich jedes Mal zu einem Kauf eines neuen Modells zu überreden. Bisher blieb ich stur.
Und nach dem Gespräch gerade eben, war mein Vertrauen in die neuste Technik nicht gerade gewachsen.

Mittlerweile beschäftigte mein Freund nur noch wenige herkömmliche Handwerker. In den meisten Büros saßen Programmierer, die den lieben langen Tag nichts anderes machten, als schräge Kundenwünsche in die Tat umzusetzen.
Ich schüttelte vehement den Kopf: »Vergiss es! Ganz bestimmt keine Musik beim Autofahren. Das lenkt mich nur ab.«
»Wie bist du denn drauf?« Er rümpfte die Nase. Mittlerweile gab es keinen Ort, an dem man nicht von irgendetwas beschallt wurde.

Ich blickte finster drein. Wir waren eben verschieden. Das begann bei den Autos und endete bei den Frauen. Er hatte Marina nie gemocht. Noch einen Grund, seine Werkstatt zu meiden.
»Was kann ich dann für dich tun?«, fragte er mich und setzte ein scheinheiliges Lächeln auf.
Ach, komm, tu doch nicht so. du weißt genau, was ich will. Meine Mutter weiß doch, dass du eine Werkstatt hast. Wo sonst würde sie den Winterreifenwechsel in Auftrag geben?, dachte ich wütend.

»Einmal Winterreifen, bitte«, nuschelte ich, weil mir bewusst wurde, wie komisch das auf ihn wirken musste.
Vor zehn Jahren hatten die Autohersteller stolz ihre neuen Modelle vorgestellt. Hier veränderte sich der Reifen auf Knopfdruck und passte sich beinahe jeder Straße und jedem Witterungsverhältnis an.
Und jetzt kam ich zehn Jahre später und bat um eine ziemlich alte Maßnahme.
»Ich glaub es nicht. Dann hat deine Alte also wirklich Recht behalten. Sobald es etwas umsonst gibt, bist du dabei«, entgegnete Alex grinsend.

»Sei bloß still, sonst suche ich mir einen anderen Laden«, fauchte ich ihn an.
»Tja, da wirst du dich wohl dumm und dämlich suchen. Wir sind nämlich die einzige Autowerkstatt in der Stadt, die solche alten Autos überhaupt noch anschaut und noch mit Winterreifen beliefert wird. Also, was ist nun? Gibst du mir jetzt deinen Autoschlüssel?«

»Spinnst du? Du sollst mir die Reifen wechseln und nicht mein Auto auseinandernehmen!«
»Oh Mann! Hast du etwa vergessen, dass ich mich vertraglich dazu verpflichte, diese blöden Reifen an deinem Auto zu testen? Und um das Ding starten zu können, brauche ich verdammt nochmal deinen Schlüssel!«
Ich überlege: Will er mich hinters Licht führen? Oder wurde wieder ein neues Gesetz erlassen, von dem ich noch nichts mitbekommen habe?

»Das Verkehrsministerium möchte sicherstellen, dass solche alten Autos wie deines nicht für einen Unfall verantwortlich sind. Du kennst doch die neuen Modelle. Die können Gefahrensituationen ziemlich genau berechnen und darauf reagieren. Bei deinem Modell sind sie auf den Grips des Fahrers angewiesen. Und falls du dann doch einen Unfall verursachst, möchten wir sicherstellen, dass wir die Reifen ordnungsgemäß gewechselt haben.«
Er hätte Rhetoriker werden sollen. Ich holte meine Autoschlüssel hervor, legte sie auf den Tresen, schob sie in seine Richtung und ließ ihn dabei nicht aus den Augen.

Nein, Alex! Nur, weil du meine Autoschlüssel bekommst, heißt das noch lange nicht, dass du gewonnen hast, dachte ich.
»Pass doch auf! Der Schrank!«
Verwirrt wandte ich mich ab und blickte hinter mich. Schrank? Wo?
Alex lachte: »Auf der Tischplatte du Idiot. Nicht das Ding, in dem du deine Klamotten aufbewahrst. Hach, ich liebe diesen Witz!«
Mein Blick huschte zurück auf den Tresen.

Und tatsächlich. Auch Alex schien seine Werkstatt neuerdings über »Schranks« zu organisieren. Ob er irgendwo auch einen »Schrink« stehen hatte? Wahrscheinlich packte er den nur aus, wenn er Kunden beeindrucken wollte.
»Wann kann ich das Auto wieder abholen?«, fragte ich und versuchte mein peinliches Missgeschick durch die Frage zu überspielen.
»Morgen Mittag.«
Ohne ein Wort des Abschieds wandte ich mich ab und verließ den Laden.

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4 Gedanken zu „Türchen 5: Jürgen“

  1. Liebe Anja,

    es freut mich, dass Dir Marlenes Briefe gefallen. Mir hat das Schreiben der Briefe auch sehr viel Spaß gemacht. Es wurde gegen Ende aber etwas schwierig, weil ich darauf achten musste, dass Marlene nicht in jedem Brief nochmal dasselbe erzählt.

    Ich bin auch schon gespannt, wie euch das morgige Türchen gefällt.

    viele Grüße

    Emma

    Antworten
  2. Liebe Daniela,

    mein Grinsen wird immer breiter, wenn ich Deine Kommentare so lese. Und tatsächlich ist Jürgen auch der einzige Charakter, der mir etwas unsympathisch ist. Über die anderen Charaktere habe ich sehr gern geschrieben.

    viele Grüße

    Emma

    Antworten

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