Kapitel 4
4. Dezember: in der Sitzecke im »Mully’s«
Tamara war dem Weihnachtsmann auf Anhieb sympathisch.
Joe fasste seine Geschichte mit wenigen Worten für sie zusammen und erzählte, wie die beiden den Vormittag verbracht hatten.
»Das hätte ich dir gleich sagen können, dass es so nicht funktioniert«, kommentierte Tamara, als Joe seine Erzählung beendet hatte.
Beide Männer blickten sie mit großen Augen an.
»Schaut euch doch mal um? Hier hat es jeder eilig und will nur schnell wieder weiter.« Bestätigend breitete sie die Arme aus, deutete auf die Theke, wo gerade zwei Kunden bedient wurden, und auf die leeren Sitzplätze neben ihnen. »Da bleibt keine Zeit, die Leute aufmerksam zu beobachten. Außerdem fehlt es hier an Liebe und Magie.«
»Und was schlägst du stattdessen vor?« Joe stand die Ratlosigkeit ins Gesicht geschrieben.
»Na, ich nehme ihn mit zu mir. Die Kinder freuen sich sicher, wenn sie den Weihnachtsmann höchst persönlich kennenlernen.
Außerdem ist es bei uns etwas ruhiger.« Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf Tamaras Gesicht aus.
»Ich halte das für keine gute Idee«, meinte Joe schließlich.
»Das heißt, er soll sich lieber hier zu Tode schuften?«, fragte sie und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Nein, aber ich denke nicht, dass wir den Kindern erzählen sollten, wer er ist. Sie können es sicher nicht lange für sich behalten.«
Doch anstatt eine hitzige Diskussion mit Joe einzugehen, seufzte Tamara. »Wahrscheinlich hast du recht. Und vermutlich werden sie mir sowieso nicht glauben. Gestern hat ihnen jemand erzählt, dass es dich gar nicht gibt.« Den letzten Satz richtete sie direkt an den Weihnachtsmann.
Dieser atmete tief aus, was den Riss in seinem T-Shirt ein klitzekleines bisschen vergrößerte. Ja, irgendwann kam sie immer, diese Zeit, in der den Kindern die Fantasie genommen wurde. Manche erwischte es auf einen Schlag. Sie wurden in eine triste Welt hineingeworfen und mussten schauen, wie sie sich darin zurechtfanden. Andere wurden Stück für Stück von der Fantasie verlassen und fanden sich dann irgendwann an einem Ort wieder, von dem sie sich dann fragten, wie sie nur dorthin gekommen waren.
»Dann zieh dich mal um. Wir müssen los.« Tamara blickte auf die Uhr, und der Weihnachtsmann gehorchte.
»Wo ist denn der ganze Schnee?«, fragte der Weihnachtsmann, als sie das große Einkaufszentrum nach weiteren zwanzig Minuten endlich verlassen hatten. Dieses Gebäude ist eine eigene kleine Stadt, dachte er und wusste nicht, ob er es gut oder schlecht finden sollte.
»Ha! Schnee! Du bist lustig. Den haben wir schon lange nicht mehr gesehen.« Tamara lachte freudlos.
»Aber wir haben doch nicht etwa Sommer, oder?«, fragte der Weihnachtsmann besorgt und bemerkte im selben Moment, wie albern diese Frage war. Joe hat doch vorhin von Weihnachten gesprochen.
»Wo denkst du hin? Dann würde ich ganz bestimmt nicht mit diesem Mantel hier herumlaufen. Nein, der Schnee kommt meistens erst viel zu spät. Und zwar dann, wenn die Kinder wieder in die Schule müssen und keine Zeit zum Schlittenfahren haben.«
Der Weihnachtsmann schluckte. Keine Zeit, um den Schnee zu genießen. Das ist traurig. »Aber warum nehmt ihr euch dann die Zeit nicht einfach?«, fragte er kleinlaut. In Christstollen war immer Zeit. Außer natürlich kurz vor der Bescherung.
Aber selbst direkt vor dem Abflug kam es immer wieder vor, dass der ein oder andere Schneeball geworfen und von einem getroffenen Elfen erwidert wurde.
»Na, weil ich arbeiten muss. Joe, Maya und ich wohnen bei meinen Arbeitgebern in der Dachgeschosswohnung. Und sie hätten sicher etwas dagegen, wenn ich mich nicht um ihre Tochter Ella kümmere und stattdessen im Schnee spiele. Ich bin leider kein Kind mehr.« Tamara zwinkerte dem Weihnachtsmann zu und holte einen Schlüsselbund aus ihrer Manteltasche.
»Der Wagen steht da hinten.«
»Können wir denn nicht zu Fuß laufen?«, fragte der Weihnachtsmann. Nach dem stressigen Vormittag genoss er die kühle Luft.
»Wo denkst du hin?« Tamara lachte auf. »Wir wären mindestens eine Stunde unterwegs.« Sie schloss die hintere Tür des Autos auf. »Steig ein und lass dich von mir chauffieren.«
Fasziniert beobachtete der Weihnachtsmann, wie geschickt Tamara den Wagen steuerte. Ob ihr das bei einem Schlitten wohl auch so gut gelingen würde?, fragte er sich. Wenn sie unterwegs waren, war es oft windig. Der potentielle Nachfolger musste also viel Geschick mitbringen. Wer sagt eigentlich, dass mein Nachfolger ein Mann sein muss?
Während der Fahrt murmelte Tamara immer wieder leise Flüche, wenn Ampeln auf Rot schalteten oder andere Autos ihrer Meinung nach zu langsam fuhren.
Hätte ich Elfenmagie bei mir, könnten wir über ihre Köpfe hinweg fliegen. Der Weihnachtsmann wurde wehmütig, blickte hinaus und sah viele hohe Häuser. In einem Gebäude hätten alle Bewohner Christstollens leben können. Glaubte er zumindest.
Er staunte nicht schlecht. Aber so ganz ohne Schnee? Das wird nicht funktionieren, wurde ihm bewusst.
Nach ein paar Minuten kam das Auto vor einem großen alten Gebäude zum Stehen.
Da wurde die Beifahrertür geöffnet und ein Rucksack hineingeworfen.
Der Tasche folgte ein Mädchen, das auf ihr Smartphone tippte. Der Weihnachtsmann schätzte sie auf zwölf oder höchstens dreizehn Jahre. Jedenfalls kein Alter, in dem man noch lange an mich glaubt, befürchtete er.
Da wurde die Tür neben ihm geöffnet, und ein Mädchen, das mindestens zwei Jahre jünger war als das andere, nahm neben ihm Platz.
»Mann, ich habe Hunger!«, meinte es, drehte sich zur Seite und bekam große Augen, als es den Weihnachtsmann bemerkte.
»Wer bist du denn?«, fragte es erstaunt.
Das Mädchen, das neben Tamara Platz genommen hatte, musterte ihn misstrauisch durch den Rückspiegel.
In diesem Moment wurde ihm bewusst, dass sie sich noch gar keinen Namen für ihn überlegt hatten. Er holte tief Luft und sagte: »Ähm …«
Beide Mädchen blickten ihn erwartungsvoll an.
Was soll ich nur sagen? Soll ich mir einfach einen Namen ausdenken? Welcher Name passt am besten zu mir?
Früher, als er noch kein Weihnachtsmann gewesen war und bei den Menschen gelebt hatte, hatte er einen eigenen Namen besessen. Doch in Christstollen kannte niemand diesen Namen. Alle nannten ihn nur »Weihnachtsmann«. Und bisher hatte es ihm auch nichts ausgemacht.
»Na ja …«, begann er den Satz von Neuem. Doch ihm fiel kein passender Name ein. »Ich bin …« Er legte eine kurze Pause ein und fragte sich, für welchen Namen er sich nun entscheiden sollte. Wie zur Christbaumkugel haben sie mich früher bloß genannt?
Weitere Sekunden verstrichen. Sie kamen ihm wie eine Ewigkeit vor.
Tamara startete den Wagen. Das Mädchen, das neben ihr Platz genommen hatte, verlor das Interesse am Weihnachtsmann und widmete sich wieder ihrem Smartphone.
Die Kleine neben ihm hingegen, blickte ihn immer noch mit einer Mischung aus Neugier und Geduld an.
Es ist doch nur ein Name. Mein Name, dachte der Weihnachtsmann, während in seinem Inneren viele Weihnachtsmänner jeden Winkel seines Gehirns nach diesem Namen absuchten.
»Die neugierige Dame neben dir ist übrigens meine Tochter Maya. Neben mir sitzt Ella.« Tamara überbrückte geschickt die Stille.
»Ja, das Mädchen ohne Eltern, dem sie eine Ersatzfamilie bezahlen«, murmelte Ella zähneknirschend.
»Ella!«, rief Tamara. Maya hingegen lächelte den Weihnachtsmann freundlich
an. »Du bist sicher aufgeregt. Dir fällt dein Name schon noch …«, begann sie.
»Niko!« Der Name kam einfach so aus seinem Mund heraus. Er klang zuerst etwas fremd. »Ich bin Niko.« Etwas Feierliches mischte sich in seine Worte. Ich habe meinen Namen wiedergefunden. Eine große Glückswelle breitete sich in ihm aus.
Nach und nach tauchten Bilder vor seinem inneren Auge auf. Familienfeiern, Lachen, strahlende Gesichter, Tränen in ihren Augen, mal vor Lachen, mal vor Weinen. Und all die Menschen, die er zwar nicht zuordnen konnte, die ihn aber mit seinem echten Namen angesprochen hatten. Mal laut, mal leise.
Aber immer mit diesem Namen. Je länger der Name mit ihnen im Wagen vor sich hin schwebte, desto wohler fühlte sich Niko, der Weihnachtsmann, mit seinem Namen. Es fühlte sich gut an zu wissen, dass es da eine Zeit vor den Elfen und Christstollen gegeben hatte. Eine Zeit, in der er glücklich und manchmal vielleicht auch traurig gewesen war. Eine Zeit, in der er gelebt hatte.
»Und was machst du hier?«, fragte Maya jetzt munter weiter.
Niko bemerkte, wie Ella einen vorsichtigen Blick in den Rückspiegel warf, doch schnell wieder wegschaute, als sich ihre Blicke trafen.
»Er greift mir etwas unter die Arme. Ellas Eltern haben über Weihnachten wieder viele Gäste eingeladen. Sie müssen den ganzen Tag arbeiten und haben keine Zeit, alles für den Besuch vorzubereiten«, erklärte Tamara.
»Warum laden sie immer Leute ein, wenn sie sowieso keine Zeit haben?«, murmelte Maya, und ein Schatten huschte über ihr Gesicht. Er war nur kurz da, doch Niko hatte ihn bemerkt.
»Davon haben sie mir gar nichts erzählt!« Es klang fast wie ein Protest aus Ellas Mund.
»Wie können sie denn auch, wenn sie nie da sind?«, fragte Maya.
»Immerhin verdienen meine Eltern …«, setzte Ella wütend an, wurde aber von Tamara unterbrochen.
»Es gibt wirklich viel zu tun. Und Weihnachten wird sicher schön!«
»Also im Grunde wie immer«, kommentierte Ella tonlos, und Niko ahnte, dass sich etwas Ironie in den Worten des Mädchens verbarg.
Was ist denn nur los mit den beiden Mädchen?, fragte er sich besorgt. Das ist kein normaler Streit.
»Wir sind gleich da. Dann könnt ihr Niko eure heiligen vier Wände zeigen.« Tamara lächelte vorsichtig, und Niko ahnte, dass ihm spannende Stunden bevorstanden.
Tamara parkte das Auto vor einem Haus, das Niko an eines dieser großen Häuser erinnerte, an dem sie gerade eben vorbeigefahren waren. Als Tamara die Haustür aufschloss, fand sich Niko in einer großen Eingangshalle wieder.
Gegenüber der Haustür führte eine breite Treppe in den ersten Stock. Neben der Treppe stand ein riesiger Weihnachtsbaum, der nicht nur mit Kugeln in verschiedenen Farben, sondern auch mit Lametta behangen war. Die unechten Kerzen leuchteten ihnen entgegen. Niko schmunzelte. Dieser Baum war nur die Vorstufe dessen, was ihn in der Vorweihnachtszeit in Christstollen erwartete. »Schlicht« war für die Elfen ein Fremdwort. Sie liebten es, ganz Christstollen in regelmäßigen Abständen neu zu schmücken.
Die Elfen fanden immer einen Anlass, Girlanden, Lametta, bunte Weihnachtskugeln oder Lichterketten auszupacken und an ihren Häusern anzubringen.
Da war dieser, für die Menschen doch recht bunte, Baum noch harmlos.
»Ja, ich weiß. Eher untypisch für diese Gesellschaft«, kommentierte Tamara, als sie Niko vor dem Baum beobachtete.
»Seit einer der Weihnachtsgäste den Baum einmal anerkennend bewundert hat, lassen sie mir bei der Dekoration freie Hand.«
Niko blickte sich in der Eingangshalle um und musste sich eingestehen, dass der Baum das einzig Bunte war. Es gab keinen Adventskranz und nicht einmal einen Adventskalender, der, wie er fand, ziemlich gut in die Eingangshalle gepasst hätte. Die Wände im Flur waren kahl und weiß. Gibt es denn keine Bilder, die sie aufhängen könnten?, fragte sich Niko. Er war schon in so vielen Häusern gewesen. Und meist gab es in irgendeiner Ecke ein paar Fotos der Bewohner. Vielleicht verstecken sie die ja in einem anderen Zimmer.
Neben der Trostlosigkeit in dieser Halle wirkte der bunte Baum fast etwas einsam.
Vielleicht bin ich durch Christstollen auch einfach nur verwöhnt, mutmaßte Niko im Stillen.
Ella schenkte dem Baum keine große Beachtung und rannte bereits die Treppe nach oben.
»Willst du nichts essen?«, rief Tamara ihr hinterher.
»Nee. Nicht mit der da!« Ella hatte sich noch einmal umgedreht, um auf Maya zu deuten, nur um dann schnell nach oben zu verschwinden.
Sie hörten nur noch, wie eine Tür geöffnet wurde und wieder zuflog.
»Manchmal nervt sie ganz schön«, meinte Maya und fügte hinzu: »Dann bleibt mehr für mich übrig. Ich gehe schon mal vor.« Sie wartete nicht auf eine Erwiderung, sondern verschwand ebenfalls in einem Flur.
Tamara seufzte. »Die beiden haben sich auch schon mal besser verstanden. Gerade vor Weihnachten ist es für Ella nicht einfach.«
Niko ahnte, warum.
»Da fällt dann besonders auf, dass ihre Eltern kaum da sind. Manchmal glaube ich, dass sie etwas neidisch auf Maya ist.«
»Mhm.« Er wusste nicht, was er groß dazu sagen sollte.
»Vielleicht kannst du ja mal mit ihr reden?« Tamara nickte hoffnungsvoll in Richtung Treppe.
»Sicher.« Egal, ob in seiner Funktion als Weihnachtsmann oder einfach so. Vielleicht kann ich sie ein bisschen auf andere Gedanken bringen, überlegte er. Und wenn er auch Tamara damit eine Hilfe war, konnte das doch nur eine gute Idee sein, oder? Schließlich hatte sie ihn, ohne zu zögern, aufgenommen.
Er hatte erst heute Morgen gelernt, dass das keine Selbstverständlichkeit war.
»Kommt ihr endlich?« Der Ruf kam aus der Richtung, in der Maya verschwunden war.
Tamara und der Weihnachtsmann lächelten und folgten der Aufforderung.
Die Küche war ungewöhnlich groß. Als sie den Raum betraten, hatte Maya bereits einen kleinen Tisch gedeckt und stellte gerade einen großen Topf ab.
»Der stand auf dem Herd. Es ist Suppe!«, erklärte das Mädchen glücklich.
So freuen sich die Elfen nur, wenn der Tortentag bevorsteht, erkannte der Weihnachtsmann. Neben Weihnachten war der jährliche Tortentag das Event in Christstollen, das man besser nicht versäumte.
Tamara war ebenfalls zufrieden und erklärte ihm, dass es normalerweise erst am Abend etwas Warmes zu essen gab.
Sie bedeutete dem Weihnachtsmann, Platz zu nehmen. Sie selbst verschwand an die Arbeitsfläche und schnitt noch etwas Brot.
Als Niko so dasaß, kamen immer mehr Erinnerungen an seine Zeit bei den Menschen zurück. Es waren überwiegend glückliche Momente gewesen. Und meist hatte es etwas Gutes zu essen gegeben. Doch er erkannte, dass es vor allem einzelne kurze Momente waren, an die er sich erinnerte. Obwohl ihm nun klar war, dass irgendwo da draußen wahrscheinlich ein Teil seiner Familie lebte, gab es keinen Impuls in ihm, sich sofort auf die Suche nach ihnen zu machen, und das, obwohl er sich vor Kurzem nichts sehnlicher gewünscht hatte, als etwas über seine Zeit vor Christstollen herauszufinden. Es muss einen Grund gegeben haben, warum ich nach Christstollen gegangen bin, dachte er. Wer weiß, vielleicht fällt er mir noch ein. Aber erst mal gibt es Wichtigeres zu tun.
»Heißt du wirklich Niko?«, fragte Maya.
»Ich denke schon«, antwortete er zögernd.
»Du denkst?« Tamara runzelte die Stirn.
Maya kicherte.
Niko fragte sich, was wohl so lustig daran war.
»Du siehst auch fast aus wie der Nikolaus«, meinte Maya und musterte ihn dabei von Kopf bis Fuß.
Der Weihnachtsmann grinste bei der Vorstellung. »Das wird er aber nicht gerne hören«, rutschte es ihm heraus.
»Warum denn nicht?«, fragte Maya.
»Na ja, wie soll ich sagen? Er isst nicht so gerne wie ich.
Sein Bart ist länger und grauer.«
Maya blickte ihn aufmerksam an.
»Ich mag Kinder. Er eigentlich auch, aber er ist ihnen gegenüber immer etwas schüchtern. Deswegen steckt er ihre Geschenke häufig einfach nur in den vorgesehenen Schuh oder Strumpf.« Er war so in seine Erzählung vertieft, dass ihm Tamaras kritischer Blick gar nicht auffiel. »Manchmal schaut er bei einer Familie vorbei, damit die Kinder wissen, dass es ihn noch gibt, und nicht glauben, dass die Geschenke von ihren Eltern kämen. Er ist oft genervt, wenn er wieder mit mir verwechselt wird.«
Tamara räusperte sich, und Niko wurde im selben Moment bewusst, dass er gerade kräftig aus dem Nähkästchen plauderte.
Dabei sollte es doch geheim bleiben, dachte er schuldbewusst.
»Du kennst ihn offenbar ziemlich gut.«
»Maya!«, rief Tamara, doch weiter kam sie nicht, denn der Weihnachtsmann antwortete, ohne zu zögern: »Natürlich! Er war der erste Bewohner Christstollens. Seit ich ihn kenne, sind wir befreundet.«
»Christstollen?« Mit einer Mischung aus Neugier und Irritation blickte Maya drein.
Tamara stöhnte auf.
Jetzt ist es raus, dachte der Weihnachtsmann. Das war’s wohl mit meiner Tarnung. Für einen Moment herrschte Stille.
»Na gut. Erzähl es ihr.« Tamara resignierte.
Der Weihnachtsmann überlegte. Wie viel konnte er dem Mädchen wirklich anvertrauen? Mhm, erzählen wir ihr erst mal von meiner Heimat und den Elfen, entschied er.
Als er gerade damit beginnen wollte, Maya die »Wundermühle« zu beschreiben, die nicht nur unter der Erde lag, sondern in der auch alle Weihnachtsgeschenke erfunden wurden, wurde er von Tamara unterbrochen.
»Das reicht jetzt. Du sollst dein Pulver doch nicht gleich an deinem ersten Tag bei uns verbrauchen.«
»Mama!« Maya war entrüstet. Schließlich wurde es gerade spannend.
»Niko hat versprochen, bei den Vorbereitungen zu helfen. Heute Abend kann er dir sicher mehr erzählen. Und bitte verrat Ella nichts, ja?« Sie stand auf und räumte die Teller ab.
»Die glaubt sowieso nicht mehr an den Weihnachtsmann«, meinte Maya.
Tamara und Niko verließen die Küche, um ins Arbeitszimmer zu gehen. Nun war es Zeit, ein zweites Berufsfeld kennenzulernen.
Sie gingen einen langen Flur entlang und kamen an vielen Türen vorbei. Schließlich betraten sie einen kleinen Raum, der mit zwei Schreibtischen ausgestattet war, auf denen zwei Bildschirme standen. Computer!, durchfuhr es Niko. Er hasste diese Dinger und hatte die Elfen erfolgreich davon abhalten können, sein Haus damit zu bestücken.
»Aber dann können dir die Kinder doch gar nicht bei Instagram oder anderen Social-Media Kanälen folgen!«, hatten diese aufgeregt protestiert. Rubina hatte die Elfen gefragt, was ihnen denn einfalle.
Wenn der Weihnachtsmann irgendwelche Accounts bedienen würde, bliebe ihm keine Zeit mehr für die Bescherung. Und überhaupt: Es gab ja gar kein Internet in Christstollen. Was sie wohl gerade macht?, fragte sich Niko in diesem Moment. Ach, wahrscheinlich sitzt sie mit Freddy bei einer Tasse Kakao oder verteilt Aufträge …
»Hast du schon mal an einem Computer gearbeitet?«, fragte Tamara, als sich Niko vor einen der Schreibtische gesetzt
hatte.
Er schüttelte den Kopf.
»Gut, dann suche ich, und du schreibst mit. Wir müssen uns ranhalten. Wir haben heute schließlich schon den vierten Dezember. Und bald wird das ganze Haus voller Gäste sein. Also …«
Niko wurde blass. Der vierte Dezember? Er hatte sich doch am ersten Dezember auf den Weg gemacht. Er konnte doch unmöglich …?
»Ist alles in Ordnung?« Besorgt musterte Tamara ihn.
»Ich war drei Tage im Abflussrohr?«, fragte er mit erstickter Stimme.
»Was? Das ist ja schrecklich! Wie hast du es denn da bloß hinausgeschafft?«
»Na, ich hab mich rein gesetzt und bin gerutscht. Das nächste, woran ich mich erinnern kann, war das Einkaufszentrum, vor dem ich gelandet bin.«
»Moment.« Tamara musterte ihn mit einer Mischung aus Irritation und Unglaube.»Du kommst mit dem Abflussrohr von A nach B? Bist du nicht eigentlich mit dem Rentier unterwegs?«
»Nur zur Bescherung. In den meisten Fällen reicht das Abflussrohr«, erklärte Niko gedankenverloren.
Tamara lachte auf. »Was für ein bescheuerter Name.«
Doch Niko ging nicht weiter darauf ein. »Das kann unmöglich sein. Niemand hat mir gesagt, dass ich drei Tage verliere, wenn ich bis ans Ende des Abflussrohrs reise!«
»Jetzt beruhig dich erst mal. Wir bekommen das schon alles hin. Ich habe schon so oft dieses Weihnachtsfest organisiert.
Da kann es doch nicht so schwer sein, einen Nachfolger für dich zu finden.« Tamara stockte. »Hast du das auch gehört?«, fragte sie und blickte zur Zimmertür, die einen Spaltbreit geöffnet war. »Ich dachte, ich hätte sie zugemacht.« Kopfschüttelnd stand sie auf und schloss die Tür. »Wo war ich? Ach ja, du bist sicher rechtzeitig wieder zu Hause.«
Sie ist ja noch schlimmer als Rubina. Wieso glaubten solche Leute immer, alles im Griff zu haben? Der sonst so ruhige Weihnachtsmann wurde unsicher. Ich bin schon viel zu lange unter den Menschen, gestand er sich ein.
Genau aus diesem Grund mochte er sein Leben bei den Elfen. Die Stimmung war gut. Man hatte keine Verpflichtungen außer der jährlichen Bescherung. Und auch sonst war das Leben leichter. Man lebte in den Tag hinein und musste sich nicht mit schwierigen Entscheidungen befassen. Schwierigen Entscheidungen, die über die Zukunft vieler Kindergenerationen entschieden. Jetzt beschwer dich nicht. Du hast dich selbst für diese Reise entschieden. Und immerhin kannst du schon mal mit einem zweiten Namen zu den Elfen zurückkehren.
Mit deinem zweiten Namen, versuchte er tapfer, sich zu motivieren.
»Okay, was soll ich tun?«, fragte er. Niko konnte nicht all seine Probleme auf einmal lösen und glaubte, dass Ablenkung im Moment die beste Lösung war. Auf ein paar Stunden mehr oder weniger kommt es nun auch nicht mehr an.
Nach zwei weiteren Stunden wäre Niko beinahe schnarchend vom Stuhl gefallen. Tamara hatte ihm viele Produkte gezeigt.
Sie hatten Einladungen verschickt und ganz oft auf irgendwelche Buttons geklickt. Je mehr Text und je mehr Buttons hinzukamen, desto kleiner waren Nikos Augen geworden und desto häufiger musste er gähnen. Er musste sich immer mehr anstrengen, damit sie ihm nicht vor lauter Müdigkeit zufielen.
»Wir brauchen eine Pause«, erkannte Tamara, als sie Nikos müden Blick auffing.
»Normalerweise sitze ich bei der Arbeit nicht so viel«, gestand er.
Sie nickte verständnisvoll und stand auf. »Willst du auch eine heiße Milch mit Honig?«
»Liebend gern.« Er nickte begeistert, und Tamara ging in die Küche.
Niko beschloss, die Pause zu nutzen und sich etwas im Haus umzuschauen. Ihm begegneten lange Flure mit vielen, meist geschlossenen Türen. Hier und da blickte er in ein offenes Zimmer.
In den meisten Räumen befanden sich nur wenige Möbel. Halbleere Regale, Sessel oder Schreibtische standen darin.
Doch sie sahen nicht so aus, als ob in ihnen gelebt wurde.
Die Schreibtische waren leer. Die Böden waren sauber und die Räume kalt. Nicht etwa, weil die Heizung nicht funktionierte, sondern weil die Räume nicht zu Niko sprachen. Weil es keine Geschichten gab, die sie zu erzählen hatten. In Christstollen war es anders. Die Elfen waren ein geselliges Volk. Sie spielten, sangen oder tanzten zusammen.
Selbst ernste und organisierte Elfen wie Rubina hielten es kaum allein aus. Sie brachten sich dann einfach etwas zum Lesen oder Stricken in die Gemeinschaftsräume mit. Hin und wieder kam dann ein Kommentar aus ihrer Ecke, wenn ein Spiel nicht so lief, wie sie wollten, oder ihnen die Musik zu einem Tanz nicht gefiel.
Wenn die Räume doch einmal leer waren, konnte man, wenn man genau hinhörte, das Echo eines Kicherns oder Klänge hören, die sich ein paar Stunden zuvor im Zimmer gesammelt hatten.
Doch hier in diesem Haus schien jeder für sich zu sein.
Kein Zimmer bot ausreichend Platz für mehrere Menschen.
Der größte Raum war die Eingangshalle. Zumindest hier im Erdgeschoss, fand Niko schnell heraus. Irgendwann stand er wieder vor dem leuchtenden Weihnachtsbaum.
Der Waldgeruch erinnerte den Weihnachtsmann an sein zweites Zuhause. An Christstollen. Er atmete tief ein und musterte gedankenverloren den Baum. Obwohl dieses große Haus leer und kalt schien, hatte der Weihnachtsbaum etwas Warmes und Einladendes an sich.
Niko dachte an Ella. Das einsilbige Mädchen, das nichts mit der quirligen Maya gemeinsam hatte.
Der Weihnachtsmann stieg die Treppe nach oben und entdeckte den Flur, in dem Ella verschwunden war. Als er sich gerade suchend umschaute, flog eine Tür auf und das Mädchen rief: »Tamara, ich muss …« Doch als sie Niko erblickte,
brach sie ab.
»Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.« Er lächelte zaghaft.
Sie blickte zu Boden. »Hier gibt es nicht viel zu sehen. Die meisten Zimmer sind abgeschlossen«, murmelte Ella.
»Warum das denn?«, fragte Niko erstaunt. Einige Kinder hatten ihm in ihren Briefen bereits von verschlossenen Türen am Heiligabend erzählt, aber dass es schon Anfang Dezember so weit war, damit hatte er nicht gerechnet. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass es für das Mädchen Zimmer voller Geschenke gab.
»Na, die meisten Zimmer sind für Gäste gedacht. Und die kommen erst kurz vor Weihnachten«, erklärte sie.
»Das heißt, ihr wohnt hier die meiste Zeit alleine?«, fragte er weiter.
Ella nickte.
Das ist traurig, dachte Niko. Hier gäbe es so viel Platz für Lebendigkeit.
»Und du bist nicht … einsam?«, fragte er schließlich.
Ella blickte ihn aus großen Augen an und schüttelte verständnislos den Kopf. »Nein, warum sollte ich? Tamaras Familie ist doch da. Und wenn mir langweilig ist …« Sie zögerte und hielt wie zum Beweis ihr Smartphone hoch, schaffte es aber nicht, den Satz zu beenden.
»Weih… äh, ich meine Niko! Ich weiß, wie ich dir helfen kann!« Maya war wie aus dem Nichts vor ihnen aufgetaucht.
Niko musterte sie irritiert.
»Ja, ich weiß. Lauschen ist nicht toll.« Das Mädchen legte eine kurze Pause ein und Niko glaubte, etwas Unsicherheit in ihrem Gesicht zu erkennen.
»Glaubst du etwa, ich bin sauer?«, fragte er deswegen.
Dann hat Tamara vorhin also doch richtig gehört, dachte der Weihnachtsmann.
Maya überhörte seine Frage und redete stattdessen aufgeregt weiter: »Es ging ganz einfach. Ich musste nur …« Sie brach mitten im Satz ab und schien Ella erst jetzt wahrzunehmen.
Niko musste innerlich schmunzeln, als er sah, wie sie spontan das Gesicht verzog. Ich glaube nicht, dass sie sich für Mayas Geschichte interessiert.
»Schau es dir am besten selbst an. Komm mit!« rief diese und rannte voraus.
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Hierbei handelt es sich um eine XXL Leseprobe zu meinem weihnachtlichen Adventskalender Rentierfieber.
Zum vorherigen Kapitel.
Hier geht es zur Hörprobe (Prolog).
Rentierfieber als
Und Du?
Konnte Dich die Leseprobe neugierig machen?
Was meinst Du, wie sähe wohl ein Social Media Account des Weihnachtsmannes aus?
Ui, ganz schön viel Text. Hab nicht alles gelesen, da ich Angst hatte, gespoilert zu werden!
Hi Miriam,
du hast ausgerechnet das letzte Kapitel der Leseprobe erwischt :). Ich habe die ersten fünf Kapitel (also Prolog bis Kapitel 4) veröffentlicht. Da ist dann natürlich die Frage, wie man Spoiler definiert. Es handelt sich hier um die ersten Seiten des Buches. Das heißt, du kannst die ersten Seiten rein theoretisch überspringen, oder im Buch einfach nochmal lesen, wenn sie dir gefallen haben.
Ich bin gespannt, wie dir "Rentierfieber" gefällt.
Jetzt wünsche ich dir aber erstmal einen schönen Start in das vierte Adventswochenende.