Liebe Annika,
wahrscheinlich hast Du meine erste Nachricht bereits erhalten. Nun schreibe ich Dir erneut und fasse mich dabei kurz. Ich weiß ja, wie viel Du in der Weihnachtszeit zu tun hast.
Da ich nicht weiß, ob wir das Weihnachtsfest in diesem Jahr wirklich zusammen verbringen, habe ich eine kleine Überraschung für Dich: Ich spendiere euch einen waschechten Weihnachtsbaum.
Nein, keine Angst! Nicht eines dieser hässlichen Gummidinger, von denen einige Menschen glauben, dass es die einzig wahren Bäume sind.
Euer Weihnachtsbaum ist auch nicht auf illegalem Wege ins Land gekommen. Um genau zu sein, ist der Baum noch gar nicht in der Stadt. Du musst ihn noch abholen. In dem Ort nimmt man die Gesetze nicht ganz so streng. Du erkundigst Dich vor Ort auf dem Weihnachtsmarkt nach Ernst. Er weiß, was zu tun ist.
Jetzt fragst Du Dich sicher, wie Du in einen Ort kommen und auch noch einen Baum transportieren sollst, so ganz ohne Auto. Melde Dich einfach bei Jürgen. Ich habe ihm in diesem Jahr Winterreifen spendiert. Er hat also keine Ausrede, seine Hilfe auszuschlagen. Du musst ihm aber folgenden Zahlencode für sein Navigationsgerät geben, damit er den Ort auch findet: 32 69 78.
Ach ja, er wird das Weihnachtsfest dieses Jahr auch vermutlich mit euch verbringen wollen. Er hat in diesem Jahr vielleicht niemanden, der mit ihm feiert. Bitte nimm ihn bei euch auf.
Und nun, bitte ich Dich noch um einen kleinen Gefallen: Ja, ich weiß, die Vorweihnachtszeit ist stressig. Aber bitte gönne Dir auch eine kleine Pause. Lilly würde, sich sicher über einen Ausflug in eine Winterlandschaft freuen. Es wäre also wirklich reizend, wenn Du sie mitnimmst.
Na, was denkst Du?Bis bald,
Marlene
Sechster Dezember:
Annika seufzte. Es sind genau genommen drei Gefallen: Erstens: Weihnachten mit meinem Bruder feiern, zweitens einen Weihnachtsbaum besorgen und zum Schluss noch ein paar Stunden freischaufeln, um Zeit mit meiner Tochter verbringen zu können.
Ihre Mutter hatte wirklich jede Menge verrückte Ideen. Völlig realitätsferne Vorschläge. Zum Glück erwartet sie nicht auch noch, dass ich mich an dieser Schnitzeljagd beteilige!
Lilly war vierzehn. Und da gab es mit Sicherheit spannendere Dinge, als einen Nachmittag mit ihrer Mutter verbringen zu müssen.
Außerdem hatte Annika keine Ahnung, in welchem Ort der Weihnachtsbaum abgeholt werden sollte. Da war es wahrscheinlich sinnvoll, sich gleich ein ganzes Wochenende Zeit zu nehmen. Um in die umliegenden Dörfer zu kommen, musste man nämlich viel Zeit einplanen.
Oder wir holen das Ding halt kurz vor knapp ab, überlegte sie. Irgendein Navigationsgerät, dass ihr die Route zum Ort ausspuckte, würde sich sicher auftreiben lassen.
Annika hatte ihren Urlaub schon eingereicht. Und Marlene wusste ja, dass vor Weihnachten immer viel los war. An einen zusätzlichen freien Tag war also nicht mehr zu denken.
Ach, Mama. Aber so ein echter Weihnachtsbaum passte sicher gut in die Wohnung. Als Annika noch klein war, hatte Marlene sie jedes Jahr mit in den Wald genommen.
Damals, als es noch Wälder in der Nähe gab. Der Duft von Tannen gehörte ab diesem Zeitpunkt zu den Dingen, die Annika für ein Weihnachtsfest brauchte.
Und dieses Wundermittel, mit dem man die Gummibäume auffrischen sollte, reichte bei weitem nicht an den Geruch aus der echten Natur heran. Die Vorstellung einen echten Weihnachtsbaum in den eigenen vier Wänden zu haben, wurde immer verlockender.
Aber dann war da noch diese Sache mit Jürgen. »Und wenn du glaubst, dass ich der spendable Onkel bin, hast du dich gewaltig getäuscht, meine Liebe. Ich kann schließlich auch nichts dafür, wenn du dich einfach schwängern lässt und der Vater in die große weite Welt verschwindet«, hatte er kurz nach Lillys Geburt zum Besten gegeben. Sie beschränkten ihren Kontakt also auf das Nötigste.
Annika blickte von ihrem Smartphone auf. Und das gerade noch rechtzeitig. Denn da näherte sich eine Drohne.
Wäre ich in einem Märchen, müssten dass wohl eine Eule sein, lächelte Annika.
Sie öffnete das Fenster und das schwache Lächeln formte sich zu einem breiten Grinsen. Diese Drohne hatte tatsächlich die Gestalt einer weißen Schneeeule.
Ich glaub es nicht! Da kennt mich aber jemand ziemlich gut!
Um genau zu sein wusste nur eine Person, wie sehr sie die weißen Vögel mochte. Marlene.
Die Eule landete auf Annikas Schreibtisch und diese streckte vorsichtig ihre Finger nach der Eulendrohne aus und überlegte, ob sie die Drohne wohl streichen könnte. Vielleicht sind ihre Federn ja flauschig.
Da fiel Annika erst auf, dass die Eulendrohne die Schlaufe eines kleinen Beutels im Schnabel trug.
Schnell stupste sie die Drohne an, die den Beutel sofort auf dem Tisch ablegte.
»Es liegt eine Nachricht für Sie bereit!«, wurde sie von einer mechanischen Stimme angesprochen.
Annika erkannte, dass die Worte wohl aus dem Schnabel der Eulendrohne gekommen sein mussten.
Die Stimme klang freundlich, sprach aber in abgehackten Tönen, die unmissverständlich klarstellten, dass es sich hier um Technik und nicht um ein tierisches Wesen handelte.
Die empathischen Stimmen, die den Umgang mit tierischen Drohnen erleichtern sollten, waren noch nicht auf allen Drohnenmodellen installiert worden.
»Hierbei handelt es sich um einen Vorgeschmack auf Ihre weihnachtliche Überraschung. Es grüßt Marlene«, sprach die Drohne weiter und das, obwohl Annika ihr gar keinen Auftrag erteilt hatte.
Wahrscheinlich haben das die alten Modelle auch an sich. Den Auftrag überbringen und dann nichts wie weg, mutmaßte sie.
»Vielen Dank für Ihre Bestellung und den Versand mit der Eulenpost! Wir wünschen gute Unterhaltung und eine frohe Weihnachtszeit!«
Dann schwirrte die merkwürdige Eulendrohne wieder zum Fenster hinaus, ohne ihre Flügel aufzuklappen.
Noch ein Indiz dafür, dass Annika hier veraltete Technik vor sich hatte. Trotz vieler Proteste sollten die Tiermodelle auch die Bewegungen ihrer realen Artgenossen übernehmen können. Tierschutzaktivisten hatten damit argumentiert, dass man so das Tier nicht mehr von der Technik unterscheiden könne.
Allerdings waren die Proteste bisher nicht erhöht worden.
Marlene musste die Bestellung wohl schon bezahlt und bewertet haben. Sonst wäre das Prozedere nicht so schnell vorbei gewesen.
Annika nahm den Beutel in die Hand und betrachtete ihn genauer. Es war ein kleiner brauner Beutel. Er war aus einem dicken Stoff und wies schon deutliche Gebrauchsspuren auf.
Na, viel ist da ganz bestimmt nicht drin, dachte Annika.
Der Beutel wirkte zwar prall gefüllt, dennoch spürte sie kaum Gewicht auf ihrer Hand.
Sie holte einmal tief Luft, öffnete die Schlaufe, schloss die Augen und hielt sich den Beutel unter die Nase. Sofort kam ihr eine Welle von Waldgeruch entgegen.
Annika sog den Duft auf und atmete ihn tief ein. Ein Geruch, den sie in der Großstadt schmerzlich vermisste. Pflanzen waren schon lange nicht mehr in Städten oder Randbezirken zu finden.
Vorsichtig schob sie eine Hand in den Beutel und zog diese prompt zurück.
Au! Nadeln! Geht’s noch?, entfuhr es ihr in Gedanken. Warum um alles in der Welt verschickte Marlene Nadeln? Sie mochte Rätsel, das hatte Annika nach all den Jahren verstanden. Aber schlechte Scherze waren nicht Marlenes Stil.
Da kamen ihr die Worte der Drohne in den Sinn:
»Hierbei handelt es sich um einen Vorgeschmack auf Ihre weihnachtliche Überraschung…«
Und was hat sie mir versprochen? Einen Weihnachtsbaum, überlegte Annika. Ich bin doch nicht blöd. Sie muss mir doch keine Nadeln schicken. Die E-Mail reicht doch vollkommen aus.
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Übersicht über die technischen Neuerungen im 22. Jahrhundert
Guten morgen,
oh, die arme Eule 🙂 Hoffentlich muss diese nichts zu schweres transportieren 🙂
Aber das Rätsel wird hier immer spannender 🙂
Liebe Grüße
Anja vom kleinen Bücherzimmer
Eine kleine Reminiszenz an Hedwig, wie schön! Ich hoffe, dass es im Jahr 2099 noch üppig viel Grünes in den Städten gibt! Deine Geschichten lassen sich so smooth lesen und Du entlockst mir mit Deinen Phantasien über Drohnen, die wie Eulen aussehen (nicht zu vergessen die Drohnen im Engels- o. Elfenkostüm!) immer wieder ein Lächeln! Ich mag Deine Phantasie!!! Und….langsam beginne ich Zusammenhänge zu erkennen. Es wird immer interessanter…
Die Grafikerin
Liebe Anja, liebe Grafikerin,
ihr seid cool! Vielen Dank für Eure Kommentare.
Keine Sorge, die Eule stemmt die Pakete mit links. Tatsächlich hatte ich in diesem Kapitel in der Rohfassung noch eine kleine, böse, "schwarze Humor"-Szene eingebaut, aber ich hab mich nicht getraut, sie in der Endfassung drin zu lassen, weil ich dachte, dass man die Szene auch missverstehen könnte. Aber wenn ich so darüber nachdenke, hätte mich schon interessiert, was ihr darüber denkt :-).
Und natürlich finde ich es spannend, dass Du, Grafikerin, schon Zusammenhänge erkennen kannst.
viele Grüße an euch beide!
Wie traurig, dass es in der Zukunft kein Grün mehr in den Städten gibt.
Übrigens interessant, wie sehr Marlene ihre Pappenheimer kennt. Denn ihre Tochter wird wohl wirklich erst kurz vor knapp zu der Adresse fahren, also rechtzeitig zu Weihnachten da sein. Wie schön Marlene manipulieren kann, das ist echt herrlich. Da denkt Annika, sie ist außen vor bei der Schnitzeljagd und tatsächlich ist sie mittendrin; das gefällt mir.
Auch die Eulenpost. Auch ich hab, wie meine Vorposterin, an Hedwig denken müssen.
Ich hab das Glück gehabt in einem Praktikum im Vogelpark einmal tatsächlich eine Eule streicheln zu dürfen :),
das war soooo toll!
Guten Morgen Daniela,
zwei meiner Co-Autorinnen würden wahrscheinlich vor Neid erblassen, wenn sie Deine Eulen Geschichte lesen würden :-). Das ist echt cool, dass Du eine Eule streicheln konntest. Ich war mal bei so einer Vogelshow dabei, da gab es glaube ich nur Adler oder andere Vögel aber keine Eulen. Und die sahen zwar echt cool aus, aber ich hatte ziemlichen Respekt und ich glaube, die Vögel durfte man auch nicht streicheln.
Ja, Marlene kennt ihre Familie ziemlich gut. Aber eines kann sie nicht miteinkalkulieren: Die Sache mit den Zufällen 🙂
Ich wünsche Dir einen guten Start in die neue Woche!
Emma