23. Dezember 16:00 Uhr
»Mach so was nie wieder!« Annika fiel ihrer Tochter um den Hals.
»Tut mir leid, aber Oma hat gesagt …«
Lilly wurde von Jürgen unterbrochen: »Meine Mutter hätte ganz bestimmt nicht gewollt, dass du deine Mutter zu Tode ängstigst.«
»Hör ausnahmsweise auf deinen Onkel. Er kennt deine Oma nämlich am besten. Also wie sieht der Plan aus?«, fragte sie in die Runde.
»Es gibt keinen«, gestand Gerda.
Alle hatten sich mittlerweile in der kleinen Küche in Ernsts Haus versammelt.
Er musste die letzten Weihnachtsbäume unter die Leute bringen, hatte aber kein Problem damit, wenn die ratlosen Freunde und Angehörigen von Marlene in seiner Küche eine Lagebesprechung abhielten.
»Ich habe versucht, Marlenes Hörgeräte zu orten. Aber so wie es aussieht, funktioniert entweder die Technik nicht, oder ich habe sehr schlechten Empfang«, erklärte Olli, der wieder über ein technisches Gerät gebeugt war.
Da flog die Haustür auf und eine junge Frau stolperte hinein: »ERNST! SIE IST WEG!«
Als sie in die Küche blickte und die vielen Men-schen sah, hellte sich ihr Gesicht auf. Dann wich die anfängliche Freude Besorgnis.
»Moment mal, das heißt, Sie waren die Einzige, die von meiner Mutter eingeweiht worden war?«, fragte Jürgen skeptisch.
»Nicht ganz. Papa wusste, dass er für sie einen Weihnachtsbaum zurückhalten sollte. Und ich musste ihm Bescheid geben, dass wir die Kutsche verleihen würden. Die ist übrigens auch weg. Aber jetzt ist Marlene wirklich verschwunden. Die Hütte ist leer«, meinte Lisa resigniert.
»Die Hütte?«, fragte Lilly aufgeregt, packte ihr Smartphone aus und öffnete ein Foto des Adventskalenders.
Natürlich hatte sie die Symbole mit Marianne geteilt, in der Hoffnung, dass diese Marlenes Assoziationskette verstand. Aber die war nicht davon ausgegangen, dass auch das Hüttenbild von Bedeutung sein könnte.
Gerda stand auf und stellte sich neben Lisa, um ebenfalls einen Blick auf das Bild erhaschen zu können. Als sie den Adventskalender sah, stöhnte sie auf. »Marlene, du Fuchs«, murmelte sie.
»Genau. Ungefähr so sieht es da oben im Sommer aus. Wenn ihr wollt, kann ich euch hin bringen. Immerhin habt ihr sie ja fast gefunden. Das wäre also wohl kaum geschummelt«, erklärte Lisa und gab Lilly das Smartphone zurück.
Als sie unten am Berg angekommen waren, der zur Hütte führen sollte, fiel ihnen eine große Kutsche auf. Eine Kutsche ohne Dach.
Lisa, in deren Auto sich Lilly, Chris und Olli befanden, hupte aufgeregt, legte ein Überholungsmanöver hin und kam mit quietschenden Reifen direkt vor der Kutsche zum Stehen.
»Das muss der Rest unserer Gruppe sein!«, rief sie aufgeregt, während sie die Autotür öffnete und bereits auf die Kutsche zustürmte.
Ihr stolperte ein Mann entgegen, dessen Gesicht rot gefärbt war. Ob vor Wut oder Scham war noch nicht zu erkennen.
»S-S-Sie haben mich zu Tode erschreckt!« Er deutete auf Lisa und funkelte sie wütend an.
»Entschuldigen Sie bitte. Sie möchten doch auch zu Marlene, oder?«, fragte sie kleinlaut, als ihr bewusst wurde, welch waghalsige Aktion sie gerade vollbracht hatte.
Er nickte und zeigte in Richtung der Kutsche. Eine Frau kletterte ebenfalls hinaus.
»Geht’s noch?«, fragte sie an Lisa gewandt.
»Ich kann Ihnen erklären, wo Marlene ist. Also fast jedenfalls. Bitte fahren Sie mir nach«, meinte Lisa, wandte sich ab und ging zurück zu ihrem Auto.
Wäre sie nicht so aufgeregt gewesen, hätte sie ganz bestimmt bemerkt, dass dies alles andere als die feine englische Art war.
Daniel und Marina blickten sich fragend an, nahmen aber wieder in der Kutsche Platz und befolgten Lisas Anweisung.
»Und wo ist Marlene jetzt?«, fragte Annika besorgt, als sie alle am Esstisch in Marlenes vorübergehendem Heim Platz genommen hatten.
»Ich habe absolut keine Ahnung. Heute Morgen war sie noch da«, antwortete Lisa mit ernster Miene.
»Also, wie können wir sie finden? Vorschläge bitte!«, meinte Harald und klopfte zweimal kurz auf den Tisch, um die Sitzung zu eröffnen.
»Wir teilen uns auf. Wir haben mehrere Fahrzeuge. Zwei Gruppen gehen in den Wald und eine Gruppe bleibt hier, falls sie doch noch auftaucht«, schlug Marina vor.
Niemand hatte einen Gegenvorschlag.
»Zum ersten… zum zweiten… und zum dritten«, schloss Harald die Sitzung.
Renate, Lilly und Olli hatten sich ein Fahrzeug genommen. Olli tippte auf ein kleines Gerät, vermutlich ein »Schrunk« und murmelte etwas.
»Was?«, fragte Lilly und musste grinsen.
Ollis Gesicht bekam eine leicht rötliche Farbe und der Junge starrte weiterhin angestrengt auf das Gerät in seinen Händen.
»Das hast du gerade nicht wirklich gesagt, oder?«, bohrte Lilly weiter nach.
»Ähm…«, meinte der Junge gedehnt.
»Eingabe nicht korrekt. Bitte begrüßen Sie mich anständig«, forderte der »Schrunk«.
»Nicht lachen, sonst funktioniert die Spracherkennung vielleicht wieder nicht! Ich war jung und unerfahren, als ich mir diesen Namen ausgedacht habe«, wandte sich Olli ernst an seine Teamkolleginnen.
Er holte tief Luft und meinte: »Yo Kurt!«
Lilly prustete los.
Renate hatte die Anrede des Jungen nicht bemerkt und schien allein damit beschäftigt zu sein, das Auto durch den Wald zu manövrieren.
»Orte Marlenes Hörgeräte!«, befahl Olli.
23. Dezember: ca. 17:30 Uhr in der Hütte
»Jetzt haben wir es wirklich ans Ziel geschafft und Marlene ist trotzdem nicht da«, grummelte Gerda.
»Tja, meine Schwester macht halt was sie will«, entgegnete Marianne.
»Noch einmal mache ich so ein Spektakel nicht mit«, erklärte Annika und stellte eine Teekanne und ein paar Tassen vor den Damen ab.
»Immerhin weiß ich jetzt, warum sie unbedingt wollte, dass ich diesen Glühwein trinken gehe«, erklärte Gerda.
Annika und Marianne blickten sie fragend an.
23. Dezember 17:45 Uhr
Nie, nie, nie wieder entwerfe ich so einen bescheuerten Plan. Das nächste Mal starte ich meine Schnitzeljagd im Frühling. Dort ist es nämlich weder zu kalt noch zu heiß.
Inzwischen war es dunkel geworden. Obwohl mich Rudy immer noch anschwieg, hatte er zumindest die Energie aufgebracht, eine große Taschenlampe anzuwerfen.
Mich umgab jetzt also ein leuchtend weißer Kreis. Und zu allem Unglück konnte ich auch noch die Schneeflocken erkennen, die gerade vom Himmel fielen.
Wäre es nur um einen einfachen Ausflug gegangen, hätte ich diesen Anblick wahrscheinlich schön gefunden.
»Zum Glück hat Lisa kein Problem damit, wenn wir ihren Wagen nehmen.«
Jetzt geht dieses Gerede schon wieder los! Kann ich nicht einfach sterben? Muss das noch mit diesen schrägen Halluzinationen einhergehen? Leben, zieh endlich an mir vorbei, dann hört der Spuk auf, dachte ich wütend.
Immerhin war mein Sitz immer noch warm.
In der letzten Stunde hatte ich mindestens fünf Mal auf den Bildschirm getippt, in der Hoffnung, dass sich Rudy wieder beruhigen würde.
Doch bis auf die Aktivierung der Taschenlampe hatte sich nichts getan und mir wurde immer mehr bewusst, dass meine Chancen begrenzt waren, aus diesem nicht geräumten Wald wieder herauszukommen.
»Vielleicht hat sie es auch einfach bemerkt…« Das Rauschen unterbrach den Satz. Doch ich hatte die Stimme erkannt. Das war Olli.
Ich richtete mich auf und blickte mich um. Doch weit und breit war niemand zu sehen.
»Marlene? Können Sie mich hören?«, fragte er zweifelnd.
»Ja, laut und deutlich«, grummelte ich, rechnete aber nicht damit, dass das irgendetwas bringen würde.
Und tatsächlich.
Es blieb stumm.
23. Dezember um 17:50 Uhr: im Auto
»Wie soll sie denn bitteschön bemerkt haben, dass du dich an ihren Hörgeräten zu schaffen machst? Oma hat doch wohl kaum eine technische Ausstattung mit in den Wald genommen. Sonst wäre sie doch schon längst wieder zurückgekommen«, meinte Lilly seufzend.
»Oh, Mann, Lilly! Im besten Fall kann sie uns hören«, entgegnete Olli augenrollend und fragte sich im selben Moment, ob er denn der Einzige war, der etwas von Technik verstand.
Dann hielt er kurz inne und fügte hinzu: »Da war etwas. Es war leise aber klang ziemlich genervt.«
»Klingt ganz nach Marlene«, meinten Lilly und Renate gleichzeitig.
Sie hielten an.
Olli stieg aus und sprach weiter in sein Gerät. »Folgt mir!«, meinte er, ohne aufzublicken.
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Übersicht über die technischen Neuerungen im 22. Jahrhundert
Guten morgen, Eamm,
oh mann, machst du es spanned zum Schluß. Und jetzt ist auch noch Marlenes verschwunden. Aber da waren ja doch mehr Leute anscheinedn eingeweiht.
Jetzt bin ich auf morgen gespannt, wie das Weihnachtsfest wird 🙂
Gamuz liebe Grüße
Anja
Liebe Anja,
die Geschichte muss ihrem Namen ja gerecht werden :-).
Und ich wollte auf den letzten Metern nochmal einen kleinen Spannungsbogen für die Leute, die erraten haben, wo sich Marlene aufhält.
viele Grüße
Emma
Marlene, heute hier, Morgen dort, ist kaum da, muss sie fort…und Gerda hat keinen Plan. Kein Plan könnte sich hier als Glück herauskristallisieren, da ja Marlene immer einen Plan hat und den auch durchzieht!
Bin auf das Finale gespannt!
Gruß,
Die Grafikerin
Hallo, sind sie Marlene ?
Nein, schon wieder nicht.
Es ist aussichtslos.
Seit ihre Angehörigen und Bekannten und Freunde sie suchen, weil es eigene Hinweise über ihren Aufenthaltsort gab,
Ach, eine komplizierte und tragische Geschichte,
schaue ich hinter jeden Baum um die Hütte.
Besser als diese Höhrgerätenavigation.
Also ich weiss ja, ich bin mein Geld wert,
aber Marlene ist ein Fall für einen Spürhund..Columbo ??
Liebe Grafikerin,
ich glaube, dieser Teil gehörte nicht zu Marlenes Plan. Aber wer weiß, vielleicht führt sie uns alle nur an der Nase herum und ihr – äh ich meine natürlich wir – erfahren morgen, dass die ganze Schnitzeljagd nur eine Simulation auf einem Holo Deck war und Commander Data (ich musste wirklich kurz googeln, wie man den Namen schreibt) lädt uns alle zu einem Weihnachtsdinner auf der Enterprise ein. (Vielleicht sogar ohne Gans 🙂 ).
viele Grüße
Emma
Liebe Julia,
da hättest Du mal Lisa und Ernst in Dein Team holen sollen. Die beiden haben immerhin Connections im Dorf. Columbo würde wahrscheinlich aufgrund sprachlicher Barrieren scheitern. Die Dorfbewohner könnten ihn noch für eine Stalker halten, wenn er immer wieder kommt um dieselben Fragen zu stellen.
Wer weiß, vielleicht können Sie sich ja morgen mit einem Lächeln zur Kamera drehen und verkünden: "Wir haben Marlene gefunden!"
viele Grüße
Emma
Hi Emma,
ich bin naürlich auch noch an Bord. Dieses Türchen hat mir besonders Spaß gemacht, die vibrierende Peitsche und die Kutsche – einfach herrlich!
LG – Daniela
Liebe Daniela,
es freut mich, dass Du weiterhin mit dabei bist und Dir die Idee mit der Peitsche gefallen hat. Ich mochte die Vorstellung auch sehr und hätte tatsächlich nicht gedacht, dass es für zweideutige Assoziationen sorgen könnte.
Ich wünsche Dir und Deinen Lieben noch zwei schöne, hoffentlich ruhige Feiertage!
viele Grüße
Emma