Türchen 10: Marina

Ein Kranz in dessen Mitte eine 10 steht.Marina legte wutentbrannt den Hörer ihres Telefons auf.
Ja, die Residenz verfügte noch über solch alte Kommunikationsmittel. Die technische Ausstattung wurde erst nach und nach auf Vordermann gebracht. Meistens dann, wenn es einen Räumungsverkauf oder einen Aktionstag mit Sonderangeboten für technische Ausstattungen gab.

Immerhin waren die alten Telefone so umgerüstet worden, dass man auch neuere Geräte damit anrufen konnte. Und leider konnte man auch angerufen werden.

»Gib es doch zu! Du bist verdammt nochmal froh, wenn du mich endlich los bist. Da räumst du auch schon mal meine Mutter aus dem Weg«, hatte er am Telefon gejammert.

Marina hätte nicht mehr damit gerechnet, dass Jürgen sie wirklich anrief. Sie war eigentlich davon ausgegangen, dass er sich nicht sonderlich dafür interessierte, wo seine Mutter die Vorweihnachtszeit verbrachte. Und Marina war schwer davon ausgegangen, dass sie die letzte Person wäre, mit der Jürgen sprechen wollte.

Nach all dem, was zwischen uns passiert ist. Manchmal bin ich einfach nur blöd!, seufzte Marina in Gedanken und bereute es, Jürgen hinterher telefoniert zu haben.

»Es dreht sich nicht alles nur um dich, Jürgen. Ich bin ganz bestimmt nicht in der Position meine Bewohner aus dem Weg zu räumen. Außerdem würde das meinem Ruf und dem Ruf des Hauses schaden«, versuchte Marina zu argumentieren.
»Ha! Deinem Ruf! Und ich soll nicht immer nur an mich denken?«, rief Jürgen aufgebracht.
»Was hast du genommen?«, fragte Marina alarmiert.
»Genommen? Ich?! Was denkst du denn von mir?«
»Ich denke, dass du irgendwas nimmst, dass dir solche merkwürdigen Gedanken ins Gehirn pflanzt. Kein Mensch denkt so böse über andere Leute.«

Und ganz bestimmt nicht über die eigenen Ex-Partner, fügte sie in Gedanken hinzu.
»Aber ist ja auch egal. Wir sind nicht mehr zusammen. Ich habe keine Ahnung, wo deine Mutter ist. Und damit wäre das Gespräch an dieser Stelle auch beendet!« Marina wartete nicht einmal darauf, dass Jürgen etwas erwiderte.
Sätze wie »Du wirst eines Tages froh sein, wenn du mich endlich los hast« oder Jürgens eiserne Sparsamkeit und seine ständige Selbstbezogenheit hatten ihre Beziehung bestimmt. Bis Marina irgendwann die Geduld verloren und ihn endlich verlassen hatte.
»Das ist die beste Entscheidung Ihres Lebens! Mein Sohn muss erst einmal erwachsen werden, bevor er bereit für eine Beziehung ist«, hatte Marlene die Entscheidung ihrer Bezugspflegerin unterstützt.

Marina blickte auf den Bildschirm eines »Schranks«, der in ihren Schreibtisch eingelassen worden war. Das Ergebnis des letzten Aktionstags eines Technikladens.
Marina blinzelte ein paar Tränen weg.
»Befehl bestätigt. Ihr Postfach wird geöffnet!«, flötete eine gut gelaunte Frauenstimme.
Marina rollte mit den Augen. Sie hätte sich gerne einen Moment zurückgelehnt, wusste aber, dass es nicht gerne gesehen wurde, wenn man sich direkt nach einem technischen Befehl anders entschied und den Befehl änderte.

So war es schon häufiger zu Systemabstürzen gekommen, die sich manchmal auch auf die anderen Büros auswirkten. Und ihre Kolleginnen hatten sich schon häufiger darüber beschwert, dass sie ihre Arbeit wegen eines Absturzes unterbrechen mussten.
Marina stutzte. An erster Stelle stand eine Nachricht von Marlene.

Liebe Marina,

entschuldige Sie bitte, dass ich Ihnen so einen Schrecken eingejagt habe. Aber es wäre für uns alle nur halb so lustig geworden, wenn ich Sie in meinen Plan eingeweiht hätte. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Sie meine erste Nachricht erhalten haben. Die Spamfilter unserer Residenz sind wirklich hartnäckig, habe ich mir erklären lassen. Man sollte einen extra Kanal für die Anliegen der Bewohner einrichten. Damit kein Anliegen mehr im Nirwana verschwindet. Nur mal so ein kleiner Hinweis für Ihr Qualitätsmanagement.

Aber kommen wir nun zu den wesentlichen Fakten: Wie Sie bereits mitbekommen haben, habe ich mich aus dem Staub gemacht. Keine Sorge, ich kehre wohlbehalten zurück. Ich weiß nur noch nicht genau, wann. In meiner ersten Nachricht habe ich Sie herzlich eingeladen, Weihnachten mit mir zu verbringen. Allerdings nur unter der Bedingung, dass Sie mich auch finden.
Sie haben den Vorteil, dass Sie im Gegensatz zu den anderen Mitspielern im Team spielen dürfen: Ihre Teammitglieder sind Daniel, Harald und Renate.

Meinetwegen können Sie auch Alice mitbringen. Ich bin mir aber nicht sicher, ob ihre Akkus so lange halten werden. Aber ich möchte nicht zu viel verraten.
Anbei finden Sie ein kleines Geschenk, dass Sie an dem Ort, an dem ich Sie erwarte, sicherlich brauchen können.

Es grüßt,

Marlene

Na, immerhin muss ich nicht mit Jürgen in einem Team spielen, dachte Marina dankbar.
»Es tut mir so leid, aber ich habe gestern völlig vergessen, bei dir vorbeizuschauen!« Renate platzte in ihr Büro.
Marina blickte von dem Bildschirm auf.

»Dein Schreibtisch ist ja so ordentlich! Es war schon eine gute Idee, die alten Computer auszumisten, was?«, entgegnete Renate.
Marina blickte ihre Freundin gedankenverloren an. Sie schwebte gerade irgendwo zwischen dem Telefonat mit Jürgen und dieser merkwürdigen E-Mail und versuchte beides in ihrem Kopf zu sortieren.
»Gibt es etwa schon die ersten Weihnachtsgeschenke?«, fragte Renate und deutete auf ein kleines, in Weihnachtspapier eingepacktes Geschenk, das wie aus dem Nichts auf dem Bildschirm des »Schranks« aufgetaucht war.

Marinas Augen weiteten sich. Gibt es hier jetzt schon Zauberei? Wie abwesend kann ich eigentlich sein? Das Päckchen hätte mir sofort auffallen müssen, fragte sich Marina verzweifelt.

Wäre sie nicht so in Gedanken vertieft gewesen, hätte ihr bewusst sein müssen, dass das Päckchen erst nach der Nachricht auf ihrem Schreibtisch aufgetaucht war. Wie hätte sie sonst die Nachricht lesen können?
»Das ist von Marlene«, murmelte Marina. Von wem sollte das Päckchen auch sonst sein?
»Sie hat dir auch etwas geschickt?«, fragte Renate irritiert.
Marina entgegnete ihrer Freundin einen fragenden Blick.
»Mir hat sie eine Weihnachtsgans versprochen. Aber ich muss sie in einem Ort außerhalb der Stadt abholen«, erklärte Renate und ließ sich auf den Stuhl gegenüber von Marina fallen.

»Willst du dein Geschenk nicht aufmachen?«, fragte Renate und blickte neugierig in Richtung des Päckchens.
»Oh… ja natürlich.« Marina tauchte langsam wieder aus ihrer Gedankenwelt auf: Wohin war Marlene nur verschwunden? Ging es ihr wirklich gut? Und welchen Gegenstand hatte sie Jürgen wohl geschickt?
Sie nahm das Päckchen in die Hand. Es fühlte sich weich an.
»Wenn du weiter so lange brauchst, gilt das Geschenk vermutlich auch noch für nächstes Weihnachten«, kommentierte Renate.
Marina seufzte und riss das Päckchen auf. Ein Paar Lederhandschuhe landeten auf dem Bildschirm.
Ohne Marinas Zutun war auf einmal laute Musik in ihrem Büro zu hören. Die ersten Klänge von »Jingle Bells« flogen den beiden Frauen um die Ohren.
Marina blickte ihren Bildschirm böse an. Es ist noch nicht Weihnachten!, beschwerte sie sich in Gedanken. Dann wurde ihr bewusst, dass sie auch selbst aktiv werden musste, damit die Musik verstummte. Also tippte sie vielleicht etwas fester als sonst auf den Bildschirm.

»Hilfe, was ist denn das? Das ist ja grässlich. Ich dachte, der Schrank reagiert nicht mehr so schnell«, fragte Renate.
»Marlene meinte, wir könnten ein Team bilden. Du, Harald, Daniel und ich. Was meinst du?«, fragte Marina schließlich.
»Das ist eine fabelhafte Idee! Hättest du Lust gemeinsam mit mir diese Weihnachtsgans abzuholen? Sie meinte, auf den Metzger sei Verlass. Er ist wohl ein echter Geheimtipp«, schwärmte Renate begeistert.
Warum eigentlich nicht?, dachte Marina.

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11 Gedanken zu „Türchen 10: Marina“

  1. Liebe Anja,

    neulich haben wir eine Talkshow gesehen, in der erklärt wurde, wie man die Weihnachtsgans zubereitet. Das war sehr witzig, weil mehrere Männer in der Runde saßen und die keine Ahnung hatten, wie sie vorgehen sollen.
    Wir wissen auch noch nicht, was es an Weihnachten geben soll. Wir hatten mal überlegt, Raclette zu machen, aber das müssen wir nochmal überdenken.

    viele Grüße

    Emma

    Antworten
  2. Weihnachtsgans, Raclette, usw. pah !
    Ich plädiere für Bescheidenheit, bewährte köstliche Bescheidenheit, mein Wusch ist :
    Spaghetti (die langen) bolognese, Parmesan, Cola Zero, Feldsalat.
    Köstlich. Ein Geheimtipp !
    Da is(s)t man Champions League !

    Antworten
  3. An Bomber: Spagetthi gibt es doch Morgen… Jedenfalls weiß ich schon, was es bei Marlene am Heiligen Abend zu speisen gibt.

    An Herrn (H)Oenes: Nur, weil Sie Ihre Würstchen an das goldene "M" verkaufen, müssen Sie sich noch lange nicht dazu verpflichtet fühlen, dort auch zu speisen. Die bayrische, oder schwäbische, Küche tut es auch.

    Antworten
  4. Hi Emma,
    ich merk grad den Nachteil davon, wenn es jeden Tag nur ein Häppchen zu lesen gibt und man sich Namen nicht gut merken kann, es aber jede Menge Personen in der Geschichte gibt.

    Harald ist der, der am PC sitzt; und Daniel war der Junge, oder? Ich muss es nochmal kurz nachlesen. Bin jedenfalls auf die erste Teamaufgabe gespannt

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  5. Liebe Daniela,

    wenn der nächste Adventskalender wieder so viele Personen hat, werde ich auf jeden Fall ein Personenverzeichnis dazu machen. Vielen Dank für den Hinweis. Das ist mit Sicherheit echt nervig, wenn Du dann erstmal die Türchen nach Hinweisen auf die Personen durchsuchen musst.
    Daniel Pelzer ist der Pförtner. Also der Typ, der mit den Senioren ständig Spiele spielt und die Gerüche und Farben im Foyer steuert.
    Harald ist der ein Bewohner der Seniorenresidenz, der gerne vor "Schranks" (ja ich hätte jetzt beinahe "Schränken" geschrieben :D) sitzt und mit Marlene befreundet ist.

    viele Grüße

    Emma

    Antworten
  6. Ach, der Junge hieß anders; Daniel hat sich so jung angehört

    Ein Personenverzeichnis wäre nicht schlecht, kann ja dann nach und nach erweitert werden, so wie die Personen eingeführt werden.

    Übrigens bin ich sehr inspiriert von deiner Geschichte, nicht nur vom Inhalt, sondern auch vom ganzen Aufbau 🙂

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  7. Liebe Daniela,

    genau, das mit der Ergänzung der Personen im Personenverzeichnis, je nachdem, wann sie in der Geschichte auftauchen, ist eine wirklich gute Idee. Das werde ich nächstes Jahr wirklich so machen.
    Und es freut mich sehr, dass ich Dich mit dem Kalender inspirieren konnte. Ich war ja wirklich etwas nervös, wie das Projekt bei den Lesern ankommt, weil ich diesmal gar keine Testleser hatte, was auch bewusst so gewählt war.

    viele Grüße

    Emma

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