6. Türchen – Die Assistentin

Ein Kranz in dessen Mitte eine 6 steht.»Hey, wo willst du hin? Gleich gibt’s die Überraschung?«, zwinkerte ihr Betty verschwörerisch zu. Dabei wussten beide, dass es wahrscheinlich irgendein nichtssagendes Geschenk der Firma sein würde. Wie jedes Jahr.
»Ich will mir mal kurz die Beine vertreten. Das Essen schaukelt noch so vor sich hin«, lächelte sie.
»Aber geh nicht zu weit weg. Du hast ja gesehen, hier ist echt derbe tote Hose«, meinte Betty und wandte sich nach der Verabschiedung wieder ihrem äußerst charmanten Gegenüber zu. So schnell würde ihr dann wohl doch nicht langweilig werden.

Maria verließ den großen Saal, der voller Menschen war. Alle hatten sie etwas mit der Firma zu tun. Angestellte, Geschäftspartner oder ehemalige, zufriedene Kunden. Und alle hatten sie eines gemeinsam: Sie wollten Weihnachten nicht alleine oder mit ihrer Familie verbringen.

Vor dem Gebäude hatten sich vereinzelt ein paar Raucher versammelt. In ihren Kreisen rauchte man nicht gemeinsam. Man nutzte die Zigarette als kurze Auszeit um für sich zu sein. Denn in ihrem Beruf war es wichtig, Kontakte pflegen zu können. Schweigsamkeit bei Tisch oder einer Konferenz würde nicht funktionieren und wurde auch von ihrem Chef nicht gern gesehen.
«Wir brauchen Kunden. Und wie bekommen wir die?», begann er dann immer mit seiner rhetorischen Frage.

Die Neulinge im Team blickten sich unsicher um und wussten nicht so recht, welches Wissen aus ihrem Bachelorstudiengang nun gefragt war. Oder spielte er sogar auf die ersten Inhalte des letzten Blockwochenendes des Masters an?
»Wir kehren zum Ursprung zurück. Kunden brauchen Leute, denen sie vertrauen können. Die nett zu ihnen sind und wissen, was sie wollen. Und an dieser Stelle schlagen wir zu: Wir geben ihnen das Gefühl zu Hause zu sein. Herr ihres Projektes zu sein. Was sie ja im Grunde auch sind.« Sobald er an dieser Stelle des Monologes angekommen war, gab es unter den Neulingen wieder ratlose, verunsicherte Blicke. War er nicht etwas verrückt? Oder wich er einfach nur gerne vom Thema ab? Konnte er sich das in seiner Position überhaupt leisten?

Maria wusste es. Er konnte es nicht. Und genau deswegen gab es sie. Die Frau, die dafür sorgte, dass der Laden nicht im Chaos versank. Sie kannte den Terminkalender ihres Chefs auswendig, denn sie hatte ihn erfolgreich geplant. Sie wusste über die Vorlieben der wichtigsten Geschäftspartner Bescheid und schaffte es so, immer angemessen auf diese zu reagieren. Bei den freundlichen und glücklichen Geschäftspartnern war es oft nur eine kleine Aufmerksamkeit. Eine Schachtel Pralinen aus der Gegend zum Beispiel.

»Oh, woher wussten Sie denn, dass ich schon immer mal so eine Schachtel haben wollte?«
»Haben Sie zufällig wieder an diese kleinen Schokolädchen … Ah, ja Sie sind perfekt.«
Die Geschäftspartner, die hoch hinaus gekommen waren und sich schon lange auf ihr Geschäft verstanden, waren da etwas anspruchsvoller. Es begann hier schon bei einem Zimmer im besten Hotel und endete damit, dass man nach dem Geschäftstermin nicht seiner Wege ging, sondern sich nach der Arbeit mit dem Gast traf. Schließlich kannte er in dieser Gegend niemanden. Und es machte daher keinen guten Eindruck, wenn man ihm sich selbst überließ. Und dann waren da noch die Launen ihres Chefs. Maria hatte nämlich sehr schnell feststellen müssen, dass sich dieser nicht immer an seine eigene Maxime hielt. Freundlichkeit gehörte für ihn nicht zur Tagesordnung.

»Hey, wo wollen Sie hin?«
Ein Sicherheitsbeamter war ihr hinterher gelaufen, als sie das Gelände verlassen und in Richtung des Sees gelaufen war.
»Ich bin gleich wieder zurück. Nur eine kleine Runde«, entgegnete sie.
Er nickte und sie zog von dannen.
Die Gegend in der das Bürgerhaus stand, war wirklich schön. Maria hatte während ihres Fulltime Jobs nicht viel Zeit für Spaziergänge. Und so genoss sie es, ein bisschen in der Natur unterwegs zu sein. Früher hatte sie die Weihnachtsfeiern der Firma, die meistens direkt auf den 24.12 fielen, geliebt. Man traf Kollegen, die man unter dem Jahr kaum zu Gesicht bekam. Es war meist eine gute Stimmung und die Veranstaltung war zahlreich besucht.

Doch in den letzten Monaten war ihre Vorfreude auf die alljährliche Feier gewichen. Frustration hatte sich breit gemacht. Wollte sie wirklich jedes Weihnachten mit ihren Kollegen verbringen? Betty zum Beispiel konnte sie ganz gut leiden. Dennoch war Weihnachten das Fest der Liebe. Der Tag, den man eigentlich mit seiner Familie genoss. Schuldbewusst registrierte Maria, dass sie heute völlig vergessen hatte, ihrer Schwester und den Kindern ein frohes Fest zu wünschen.

Eine Zeit lang hatte Maria das Weihnachtsfest verflucht. Wer brauchte das schon? Es reichte doch am ersten oder zweiten Weihnachtsfeiertag kurz bei der Familie vorbeizuschauen. So machten es die Kollegen doch auch. Je mehr Zeit sie aber in oder vor allem mit der Firma verbrachte, desto leerer fühlte sie sich. Wer war sie überhaupt? Die nette Frau, die alles im Griff hatte? Warum fragte sie niemand, wie man ihr eine Freude machen könnte?

Sie hatte den See zur Hälfte umrundet, als ihr ein einsamer Wagen auffiel. Es war nicht einfach ein Auto, das jemand mitten in der Gegend vergessen hatte. Verwundert stellte sie fest, dass es sich um einen Imbisswagen handeln musste.
Der kann doch nicht ernsthaft davon ausgehen, hier überhaupt etwas zu verkaufen, schoss es ihr durch den Kopf.

Doch dann fragte sie sich, warum der Besitzer hier war. Hatte er denn keine Familie? Vorsichtig näherte sie sich dem Wagen. Die Luke war nach oben geklappt und es wirkte so, als wäre der Wagen einsatzbereit. Ein Mann drehte ihr den Rücken zu. Er hatte sie offenbar nicht gehört. Sie wollte sich gerade räuspern doch ein lautes Rufen, nein ein Schrei, kam ihr zuvor.

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11 Gedanken zu „6. Türchen – Die Assistentin“

  1. Der Platz um den See scheint sich langsam zu füllen!
    Und ne Currywurst im Wald…das könnte Kult werden… für Rehe, Wildschweine und wer sich da noch so tummelt…und es tummeln sich um Weihnachten wohl viele dort…frei nach Grönemeyer:

    "Gehse innen Wald
    Wat macht dich nicht mehr kalt
    'Ne Currywurst
    Kommse vonne Schicht
    Wat schönret gibt et nich
    Als wie Currywurst"

    ..muss mal Heiligabend in den Wald??!

    Schön, dass sich die ersten Feierlinge treffen!

    Die Grafikerin

    Antworten
  2. Liebe Anja,
    super, dass dir die Geschichten gefallen und das du die Zeit findest, schon mal etwas rein zu lesen.
    Ich hatte tatsächlich mal überlegt, den Adventskalender als eBook für einen Euro auf Amazon anzubieten. Vielleicht setze ich das nächstes Jahr mal um. Und das Witzige ist: Ich denke jedes ahr "Hm, wahrscheinlich ist das doch der letzte Adventskalender" weil mir dann die Ideen ausgehen. Und dann kommt die Grafikerin um die Ecke und meint: "Ich hab eine Idee für deinen Adventskalender!" Und dann setzt meine Kreativität doch wieder ein.

    viele Grüße

    Emma

    Antworten
  3. Hihi da war es doch gut, dass ich das Wohnzimmer schon wieder verlassen habe. Du hättest was mit Wortwitze machen sollen. Auf die verstehst du dich nämlich ziemlich gut 🙂

    Vielen Dank fürs vorbeischauen, lesen und kommentieren. Ich bin gespannt, was du von den nächsten Geschichten hältst (die ich heute vorbereiten sollte, damit sie pünktlich online kommen…)

    viele Grüße

    Emma

    Antworten
  4. Jetzt sitz ich hier und warte auf die letzten paar Minuten, um weiterlesen zu können…. Ich freue mich schon drauf das nächste Türchen zu lesen zu bekommen! LG deine Skyara

    Antworten
  5. Guten Morgen :-),
    das ist natürlich ein cleveres Timing, wenn du dann nur noch ein paar Minuten warten musst. Ich bin schon gespannt auf unseren Lesemarathon Beitrag. Das wird dann witzig, wenn ich meinen eigenen Adventskalender drin verlinken kann 🙂

    viele Grüße

    Emma

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  6. Aha.
    Wer macht denn bitte eine Weihnachtsfeier am 24.12.?
    Und wieso sind da so viele da? Normalerweise prügeln sich doch alle um Urlaub an Heiligabend? Whaaaat?

    Und wieso fragt sich Maria sofort, wieso Norbert heute alleine hier ist? Sie hat doch auch niemanden.

    Aber die Maria ist bisher noch am angenehmsten.
    Und wieso hat Norbert die Luke auf?

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  7. Die unwichtigste Frage zuerst: Norbert hat die Luke auf, weil es ja sinnlos wäre, Weihnachten an einem See ohne Seeblick zu verbringen. (Was für eine epische logische Erklärung).

    Glaub mir, ich glaube – haha – es gibt da draußen eine Menge Leute, denen Weihnachten nicht so wichtig ist. Ihnen liegt entweder mehr an ihrer Karriere oder sie boykottieren Weihnachten. Und da die Weihnachtsfeier von Marias Firma nicht den typisch kitschigen Weihnachtsfeier-Stil hat, ist die Party auch recht gut besucht. (Ich glaube, wir sollten mal "The Circle" von Dave Eggers beim Bücherstammtisch lesen hehehe).

    viele Grüße

    Emma

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