»Es ist Weihnachten, verdammt nochmal. Da kann es doch nicht so schwer sein, ein Mädchen wieder nach Hause zu bringen.«
Er tobte.
Und sie fühlte sich schuldig. Obwohl er sie ja in dem Spielzeugladen abgelenkt hatte. Nie wäre sie auf die Idee gekommen, dass sich Nele heimlich aus dem Staub machen könnte. Sie traute sich kaum irgendwo alleine hin. Warum sollte sie den Laden also alleine verlassen? Doch auf den Überwachungskameras hatte man sehen können, wie sie den Bären genommen und auf den Ausgang zugelaufen war. Es hatte ihre ganze Überzeugungskraft gekostet, dem Ladenbesitzer klarzumachen, dass ihre Tochter keine Diebin war. Und nun saß sie hier, in der Hoffnung, dass jeden Moment ein Polizist mit ihrem Kind hereinstürmte.
»Entschuldigen Sie bitte, aber wir können nicht mehr Leute abziehen. Silvester steht vor der Tür und wie Sie wissen, gab das schon im letzten Jahr ein ziemliches Geraffel. Da brauchen wir jeden Mann«, entgegnete ein junger Polizist.
»Und was genau hat das mit meiner Tochter zu tun?«
»Es ist gut jetzt. Sie werden uns schon Bescheid geben, wenn etwas ist. Ich brauche frische Luft«, erklärte sie seufzend und stand auf.
Sie mochte es nicht, wenn er laut wurde. Nele jagte es Angst ein. Wenn er toben wollte, sollte er das tun. Aber bitte ohne sie.
»Wo willst du denn hin?«, fragte er, als sie schon fast bei der Tür angekommen war.
»Ich muss nachdenken.«
Was hatte sie falsch gemacht? Sie hätte sich nicht von ihrem Telefon ablenken lassen sollen. Natürlich war ihr das bewusst. Aber es musste noch etwas anderes schief gelaufen sein. Nele würde nie so einfach davon laufen. Ihr ging es doch gut, oder? In der Schule hatte es nie Auffälligkeiten gegeben. Vielleicht arbeitete sie auch einfach zu viel. Immerhin war ihre Weihnachtsplanung dieses Jahr ein ziemliches Desaster. Wer ging schon mit seinem Kind einen Tag vor Weihnachten einkaufen? Richtige Eltern wussten schon mindestens einen Monat im Voraus, welche Gaben ihr Kind am Fest auspacken wollten. Doch Nele war anders. Bescheidenheit gehörte zu ihren Stärken. Oder wollte sie einfach nur nicht auffallen?
Zu ihrer Schande musste sie gestehen, dass sie es nicht wusste. Doch sollte nicht gerade eine Mutter ihr eigenes Kind kennen?
Sie hatte keine Ahnung, an welchen Orten sich Nele am liebsten aufhielt. Nele war ja kaum draußen. Und sie selbst war eben oft bei der Arbeit. Der Spielzeugladen war ein gutes Stück von ihrer Siedlung entfernt. Und Nele war nie groß über diese hinaus gekommen.
Sie hatte den Parkplatz bereits überquert und das Auto aufgeschlossen. Als sie in den Wagen stieg, hätte sie die Fahrertür beinahe in den eng an ihrem Auto geparkten Polizeiwagen geschlagen.
Nicht noch randalieren, dachte sie erschöpft.
So hatte sie sich ihr Weihnachtsfest ganz bestimmt nicht vorgestellt. Eigentlich hatte sie den Abend mit ihrer Tochter auf der Couch bei einem Film verbringen wollen.
Stattdessen lenkte sie den Wagen nun an einen Ort, der ihr Ruhe versprach. Hier hatten sie sich das erste Mal kennengelernt. Seither teilten sie besondere Momente an diesem Ort. So hatte sie ihm hier die Schwangerschaft gestanden.
Und danach… Ja, danach war alles etwas kompliziert geworden. Aber dennoch gab es viele schöne Zeiten, an die sie sich gerne erinnerte.
Sie stellte den Wagen neben einem Taxi ab, das den Parkplatz schmückte. Wäre sie nicht so mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt gewesen, hätte sie sich womöglich gefragt, was das Auto hier verloren hatte und wo sein Besitzer war. Anstatt den direkten Weg am See entlang zu laufen, wollte sie eine zweite Route wählen, die sie auch ein Stück am Wald entlang führen sollte.
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