9. Türchen: Der Gefallen

„Und sonst war wirklich nichts? Ein Jammer wenn wir irgendwelche Rabauken dabei erwischen… Hey was machen Sie denn hier?“ Normalerweise war es nicht seine Art, während der Visite ins Stationszimmer zu platzen. Schließlich gingen ihn die Geschichten der Patienten nichts an. Zudem verwirrte ihn das ganze medizinische Gefasel. Er wollte gar nicht so viel damit zu tun haben. Eigentlich war er sogar strikt dagegen gewesen, den Reinigungsjob im Krankenhaus anzunehmen. Aber was sollte man schon machen, wenn das Geld knapp wurde?

„Schuldigung“, murmelte er, betrachtete den Boden haargenau um dem selbstbewussten Pfleger nicht ins Gesicht blicken zu müssen und trat schnellstens den Rückzug an. „Eigentlich können Sie ruhig hier bleiben. Wir waren doch sowieso gerade fertig, stimmt’s Nan?“, fragte der Pfleger und schien offenbar keine gegenteilige Antwort zu erwarten. Er stand bereits auf und packte seine Sachen zusammen. „Wo willst du hin?“, fragte Nan müde. „Eine rauchen. Die pennen ja sowieso alle, bis dann, Rupert!“ Er quetschte sich an der Reinigungskraft vorbei, die mitten auf der Türschwelle stehen geblieben war, unschlüssig darüber, ob sie lieber gehen, oder doch bleiben sollte. Nan seufzte. „Ich liebe Menschen, die ihren Job ernst nehmen. Immerhin sind Sie immer pünktlich und erledigen Ihre Arbeit ordentlich“, meinte sie freundlich an Rupert gewandt. Dieser murmelte etwas unverständliches, was Nan wohl auch nicht sonderlich zu interessieren schien. Denn sie beeilte sich ebenfalls aus dem Stationszimmer zu kommen.

Nachdem Rupert den Boden gewischt hatte, wollte er sich den Arbeitsflächen zuwenden. Erst da fiel ihm die edle Weinflasche auf dem Tisch auf. Hatte der arrogante Pfleger noch eine Verabredung gehabt und die Flasche einfach vergessen? Rupert war irritiert. Es passte nicht zu der Vorstellung, die Rupert von diesem Menschen zu haben glaubte. Der Pfleger prahlte geradezu von irgendwelchen anstehenden Terminen. Zudem gab er selten Geld für solche Treffen aus. Natürlich rechnete Rupert insgeheim immer damit, dass irgendwann etwas Ernsthaftes entstehen und sich die Prioritäten somit ändern könnten. Dann würde er seine Angebetete vermutlich mit teuren Geschenken überhäufen. Aber ausgerechnet heute? Um diese Zeit?

Rupert näherte sich der Flasche zögernd. Vor nicht allzu langer Zeit war eine Kriegserklärung an den Alkohol seinerseits herausgegangen. Er selbst mochte keine berauschenden Getränke. Allerdings hatte er etliche Leute an seinen offiziellen neuen Feind verloren. Obwohl… Bisher war ihm die Gelegenheit den Kampf aufzunehmen, verwehrt geblieben. Die Passivität hatte, was dieses Thema betraf, sein Leben bestimmt. Seine Aufgabe bestand darin zuzuschauen, wie sich Getränke wie Bier, oder dieser wunderschöne Wein einen Weg in sein Leben gebahnt und die Menschen, die er liebte, eingenommen hatten.

Er knurrte. Er war hier um zu arbeiten. Sich mit seinen Feinden zu befassen, diese Mutprobe könnte er immer noch in seiner Freizeit anstreben. Also angelte er sich die Flasche mit einem festen Griff und stellte sie an einer anderen Stelle ab, damit er ungestört seiner Arbeit nachgehen konnte.

Als er das Stationszimmer gerade absperren wollte, kam der Pfleger zurück. „Ach, hat Nan den Wein doch vergessen. Diese Frau ist wirklich schusselig, wenn sie müde ist. Das könnte unser Glück bedeuten, stimmt’s Rupert?“, er musterte den Jungen belustigt. „Was hältst du davon, wenn wir uns die Flasche nach deinem Dienst teilen? Ich meine, so was Gutes spendiert dir das Krankenhaus, oder die Zeitarbeitsfirma bei der du wahrscheinlich angestellt bist, ganz bestimmt nicht“, fragte er amüsiert.

Rupert nahm all seine Konzentration zusammen. Eigentlich sprach er nicht gern mit Menschen, allerdings interessierte ihn eine Sache brennend: „Wem gehört die Flasche denn?“ Er kannte Nan. Sie kam nicht auf den Gedanken Alkohol mit zur Arbeit zu nehmen und im Stationszimmer zu präsentieren. Sie wusste, dass es genügend Leute gab, die sich solche Getränke zu Eigen machen würden. Zudem hielt sie nicht viel davon, die Arbeitszeit damit zu verschwenden Kaffeeklatsch zu halten. „Diesem Typen aus der 12. Du weißt doch, der ist gegen einen Stein geknallt und liegt jetzt in ner Art Koma oder so ähnlich. Jedenfalls rührt er sich nicht und sein komischer Freund hat heute wohl so ne Flasche angeschleppt. Pech für seinen Kumpel, Glück für uns. Also bist du dabei?“, fragte der Pfleger fordernd. „Mmpf, vielleicht später“, meinte Rupert ausweichend, dachte sich aber, dass er es irgendwie verhindern musste, dass dieser schmierige Typ diese Flasche auch nur anrührte. Es gab noch einen Feind, der schwerwiegender war als der Alkohol: Und das waren Menschen, die sich eindeutig für etwas Besseres hielten.

Ruperts Schicht war fast beendet. Glücklicherweise kannte er den Rhythmus des Pflegers. Er wusste, dass dieser erst kurz vor Ende seiner Schicht den Plan in die Tat umsetzen und die Flasche köpfen würde. Meist war gegen Morgen nicht mehr viel los. Zudem könne man dann immer noch behaupten, nicht mehr dafür zuständig zu sein und der Frühschicht das ganze Theater überlassen. Pfleger Superschlau würde gleich aufbrechen um seine letzte Zigarette zu rauchen. Rupert versteckte sich in seinem toten Winkel um das Stationszimmer genau im Auge zu behalten. Sobald der Pfleger verschwand, würde er hineingehen, sich die Flasche schnappen um diese für Nan zu bunkern. Diese wusste sicher, was damit getan werden sollte.

Doch der Typ kam nicht heraus. Sein Blick war auf den PC geheftet. Als ob dort eine monstermäßig interessante Nachricht zu lesen wäre. Dabei war er sicher auf irgendwelchen Tippspielportalen unterwegs. Rupert musste sich etwas einfallen lassen. Wenn er daheim Zeit vor dem Computer verbrachte, tat er manche Sachen wie aus einem Automatismus heraus. Und er wollte nicht, dass der Feind routiniert zum Alkohol griff.

Er wog seine Möglichkeiten ab. Sich in ein Patientenzimmer zu schleichen und die Klingel zu betätigen würde aus mehreren Gründen nicht funktionieren. Zum einen gehörte es zu Ruperts ungeschriebenen Kodex die Patienten in Ruhe zu lassen und deren Zimmer nur zu betreten, wenn es unbedingt notwendig war. Zum anderen ließ sich der Pfleger immer gefühlte fünf Minuten Zeit um auf Klingeleien zu reagieren. Außerdem kannte sich Rupert nicht gut genug aus, um zu wissen, welche Patienten überhaupt selbstständig klingeln konnten. Es blieb also nur noch eine Möglichkeit. Er musste Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Eigentlich war er strikt dagegen der Frühschicht Arbeit zu hinterlassen. Diesmal führte aber wohl kein Weg daran vorbei. Er schlich in die Abstellkammer der Station. Dort waren immer zwei Betten zusammengeklappt, die für Notfälle in den Patientenzimmern aufgebaut werden konnten. Ein Kollege, der gerne mit technischen Dingen herumspielte, hatte ihm einmal gezeigt, mit welchen Griffen man so ein Gestell bestmöglichst auseinanderbaute. Rupert beschloss seinem Kollegen Konkurrenz zu machen. Er schob das Bett leise aus der Abstellkammer, die sich am Ende der Station befand, heraus auf den Flur. Dort begann er leise mit der Arbeit. Als er nach wenigen Minuten drei große Teile in der Hand hielt, ließ er diese laut zu Boden fallen. Da es in der Station mucksmäuschenstill war, hallten die Geräusche an den leeren Wänden wieder. Rupert schlich sich schnell zurück, um den Pfleger zu beobachten. Sein Gesicht hatte nun einen irritierten Ausdruck angenommen. Doch er rührte sich immer noch nicht. Rupert seufzte. Er musste dem Bett also den finalen Stoß verpassen.

Wenige Minuten später krachte die Matratze zu Boden. Rupert hoffte wirklich, dass er keine Patienten erschreckt hatte. Nun flog die Tür des Stationszimmers auf und Rupert schaffte es gerade noch so in seinen toten Winkel zu verschwinden. „Ach du scheiße! Welcher Arsch…?“. Pfleger Superschlau stand fassungslos vor dem auseinandergenommenen Bett. Natürlich hatte er keine Ahnung, wie man das wieder zusammensetzen konnte. Rupert kannte ihn gut genug um zu wissen, dass dieser die Einzelteile zurück in die Abstellkammer schleppen und jemand anderem die Arbeit überlassen würde. Glücklicherweise hatte der intelligente Pfleger die Stationszimmertür sperrangelweit offen stehen lassen, sodass Rupert nicht mal mehr einen Schlüssel heraussuchen musste. Er nahm all seine Überwindung zusammen, heftete seinen Blick auf die Flasche, eilte in das Zimmer, griff zielsicher zu und machte sich mit der Errungenschaft aus dem Staub.

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6 Gedanken zu „9. Türchen: Der Gefallen“

  1. Hey!
    Ich bin ein bisschen verwirrt, wie die Flasche da jetzt vom Ende des letzten Kapitels zum Anfang des jetzigen Kapitels gelandet ist. Und ich glaube, im zweiten Absatz hast du einen Logikfehler? Oder ich verstehe nicht, wer da jetzt wen anspricht und geht 😀

    LG

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  2. Okay… manchmal sollte ich meine Gedankengänge wohl besser doch vollständig zu Papier bringen. Auf den Logikfehler bin ich gerade angesprochen worden.

    Im vorherigen Kapitel zückt Nan den Schlüssel zu ihrem privaten Schließfach. Also a la "Ich habe ein Schließfach, weil ich Mitarbeiterin der Klinik bin". Allerdings lag zwischen dem "Ich gehe zum Schließfach und setze mein Vorhaben in die Tat um"- Teil noch die Übergabe. Und dort hat sie die Flasche dann vergessen. Aber das hätte ich klarer herausarbeiten sollen. Tut mir leid.

    BETALESER??? Ich glaub ich verlange mein Geld zurück 😀

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  3. Okay, so macht das Sinn und ich habe mir sowas auch gedacht. Vielleicht ein zwei kleine Anmerkungen mehr, du musst das ja nicht vollständig so erzählen ;D

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  4. Ich überlege echt den Kalender für nächstes Jahr nochmal zu überarbeiten. Aber das jetzt so nachträglich zu ändern kommt mir auch irgendwie blöd vor. Deswegen hoffe ich, dass alle Leser auch die Kommentare lesen 🙂

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  5. Und Nummer Neun:

    "Er knurrte. " Grrrrr! Ein Werwolf =D

    Das war spannend =) So ein bisschen "Waaah, was soll ich tun" und "Ich darf mich auf keinen Fall erwischen lassen" ist immer gut =)
    Und ich mag Rupert. (Was natürlich nichts mit seinem schauspielerischen Namensvetter zu tun hat ;))
    Btw – Wie sieht er aus?

    LG

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  6. Jaja Rupert ist halt mein "eigener Ron" 😀
    Und es wundert mich echt, dass du die Unlogik, wie die Flasche aus dem Schließfach kam, nicht angestrichen hast :-).

    viele Grüße
    Emma

    PS: Keine Ahnung wie er aussieht… Ich bin eine lausige Autorin.

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